Was bin ich froh!

Mal wieder sitze ich im Zug; ein Kind quengelt am anderen Ende des Abteils, dann hört es auf. Als es mit seinen Eltern ein paar Stationen später aussteigt, sehe und höre ich es wieder: ein kleines Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt. Sie schreit und tobt und schlägt den vor ihr gehenden Vater auf den Hintern – bis dieser sein Handy aus der Hosentasche zieht und ihr hinhält. Dann starrt sie beim Aussteigen still aufs Display. Ich bin keine Expertin in Erziehungsfragen, aber innerlich lege ich die Stirn in Falten. Hier wird ein Tobsuchtsanfall belohnt. Ein Kind setzt seinen Willen durch, obwohl die Eltern anders entschieden hatten – und hat buchstäblich den letzten Schrei. Und die Eltern erlauben ihrem Kind etwas, was zumindest weder Kreativität fördert noch als `pädagogisch wertvoll´ gilt. Ich ahne, womit das Mädchen schon die Stunde Zugfahrt vorher verbrachte: mit kindgerechten und die Medienkompetenz schulenden Video-Spielen.

Was bin ich froh, dass Mobiltelefone noch nicht omnipräsent waren, als wir kleine Kinder hatten! Wir konnten sie und uns sehr lange vor den digitalen Medien bewahren – und taten es entschlossen und konsequent. Ich würde es heute noch genauso tun, aber es wäre wahrscheinlich deutlich anstrengender.

Begrenzte Medienkompetenz

Mir begegnet eine Schulklasse auf dem Weg irgendwohin; ich schätze, es ist eine fünfte oder sechste Klasse. Das Schüler-Feld ist weit auseinander gezogen: Sie gehen in Gruppen zu zweien oder dreien, wenige sind allein. Die meisten von ihnen starren dabei auf ihr Handy, gesprochen wird kaum. Das können die Eltern doch nicht wollen, denke ich. Es fällt eindeutig nicht unter die oft zitierte Medienkompetenz. Diese ist nämlich nicht dadurch erreichbar, dass Kinder immer mehr und immer früher digitale Geräte benutzen. Kompetent ist jemand, der das tatsächliche Miteinander ebenso souverän beherrscht wie das über Funk. Nicht viel Übung macht hier den Meister, sondern stattdessen Einsicht und Selbstdisziplin. Kinder brauchen dafür Hilfe in Form von Grenzen, wie zum Beispiel Handy-freien Orten oder Zeiten. Als Nebeneffekt entwickeln sie dann Kreativität und Gelassenheit – und können sich an der realen Welt erfreuen, auch wenn in der Hosentasche die digitale lockt.

Vorübergehend nicht erreichbar

Eine Freundin meiner Tochter hat ihr Handy in unserem Auto liegen lassen – wir müssen es ihr zurückgeben. Allerdings können wir ihr nicht sagen, dass wir es gefunden haben: Denn ihr Mobiltelefon ist ja bei uns; einen Festnetz-Anschluss besitzt sie nicht. Wir überlegen kurz, wo die Freundin genau wohnt: Selbstredend steht sie nicht im Telefonbuch.

Viele, vor allem junge Menschen sind übers Handy immerzu und ohne Handy fast gar nicht zu erreichen. Vielleicht ist es manchmal eine Segen, das Gerät irgendwo zu vergessen – und vorübergehend nicht erreichbar zu sein.

Ein Selbstversuch

Früher war es selbstverständlich, NICHT immer erreichbar zu sein: Als Absprachen noch analog liefen, verpasste ich sowohl Telefonanrufe als auch überraschende Besuche – meist, ohne es mitzubekommen. Damals hat es weder mir noch meinen Beziehungen geschadet.

Heutzutage sind wir digital vernetzt und immer erreichbar, das gilt auch für mich: Absprachen per Text-Nachricht sind fester Bestandteil meiner Tage. Manche davon sind unnötig und kosten eher Zeit, als dass sie Dinge vereinfachen. Daher möchte ich am IST-Zustand etwas verändern und suche nach einer guten Lösung. Ohne Regeln werde ich das Handy eher zu viel als zu wenig nutzen. 

Künftig möchte ich erst gegen Mittag auf das Mobiltelefon schauen – und dann noch einmal kurz vor dem Abendbrot. Dafür lege ich das Gerät tagsüber außer Sicht- und Hörweite.

Am Ende des ersten Tages habe ich einen Anruf verpasst (bedauerlich) und eine SMS, die eine zeitnahe Antwort erfordert hätte (nicht so schlimm). Ich denke stolz `war ja einfach´.

Schon am zweiten Tag merke ich, dass meine neuen Regeln nicht nur helfen, sondern mich auch einengen: Ich `muss´ gleich morgens etwas per Text-Nachricht klären und gestalte den Vormittag dann (wie praktisch) mit Hilfe meines Handys: Gewohnheiten lassen sich offensichtlich doch nicht `einfach´ ändern.

Ich versuche es morgen wieder.

Real?

`Be real´ ist eine neue Erfindung der Zeitvernichter: Man fotografiert etwas und richtet gleichzeitig die Kamera auf sich selbst. Die beiden Bilder zusammen sind ein `be real´ – ein Abbild meiner momentanen Realität – und werden für die digitale Gemeinschaft ins Netz gestellt. Es dauert maximal zwei Minuten. Ich finde das weder spannend noch lustig noch besonders real. Ich weiß, wie wenig aussagekräftig ein Foto ohne Kontext ist – und wie mangelhaft eine Momentaufnahme die Gesamtsituation beschreibt. 

„Ich muss noch mein `be real´ für heute machen“, sagt meine Tochter. Dabei spielt sich die Realität fernab ihres Handy-Displays ab – und vorzugsweise in der Zeit, während sie nicht mit einem `be real´ beschäftigt ist.

Medienkompetenz

Es heißt oft, dass man Medienkompetenz von Kindern dadurch fördern kann, wenn man sie möglichst früh an Medien (und hier sind nicht Bücher gemeint!) heranführt. Gemeinhin wird das als Begründung dafür herangezogen, dass man Fünfjährige mit einer Wii-Station spielen lässt, mit dem Eintritt in die Grundschule einen Nintendo für das Kind kauft, Siebenjährigen eine Playstation zur Verfügung stellt und Neunjährigen ein Smartphone in die Hand drückt, weil sie bald in die weiterführende Schule wechseln. Das Kind selbst steht dabei weniger im Vordergrund der Überlegungen, sondern vorrangig das Alter entscheidet über Haben oder Nicht-Haben.

Unsere Kinder hatten von all dem nichts; der Älteste durfte sich mit gut 15 sein erstes eigenes Smartphone (selber) kaufen und hatte mich nach zwei Tagen mit dem mobilen Handgerät locker rechts überholt, was die Medienkompetenz angeht. Ob unsere Zurückhaltung sich auch dahingehend auswirkt, dass er vernünftiger damit umgeht, als er es bei einem früheren Einstieg in die Handy-Welt getan hätte, bleibt sicher abzuwarten. ABER: Geschadet hat ihm der Verzicht nicht. Medienkompetenz ist ihm offenbar nicht verloren gegangen. (Und ja, seine Beziehungen sind nicht den Bach runtergegangen – weder die zu uns noch die zu seinen Freunden.)

Ich wünschte mir, dass in der Hinsicht ebenso viel Wunsch nach individueller Entscheidung eine Rolle spielen würde wie in vielen anderen Bereichen auch: Wie ernähre ich MEIN Kind, was darf MEIN Kind, wie sieht die Schule/beachten die Lehrer MEIN Kind. Erziehung ist absolut Privatsache; für Mediennutzung gibt es einen gesellschaftlichen Standard, dem man sich nur schwer entziehen kann, ohne als total altmodisch zu gelten beziehungsweise wie ein Spaßverderber.