Von außen betrachtet

Während des Studiums hatte ich nebenbei einen Job im Garten- und Landschaftsbau, um finanziell ein bisschen flüssiger zu sein. Unter anderem brauchte ich eine wettertaugliche Jacke, weil ich ALLE Wege mit dem Rad zurücklegte, sechs Kilometer von der Uni entfernt auf dem Land lebte und es auch in den 90ern schon unvorhersehbar regnen (und in Bayern auch schneien) konnte.

Damals kamen gerade Doppeljacken in Mode: Außen Goretex, innen Fleece – zusammen oder einzeln tragbar, je nach Temperatur. Sehr praktisch. Die Teile waren unverschämt teuer, versprachen aber – von schlechter Witterung unbeeinträchtigt – gut durch die Lande zu kommen. Auch ich erwarb also vor 25 Jahren solch ein gutes Stück.

Mittlerweile lebt von der Jacke nur noch das Innenteil – Kategorie: „darf schmutzig werden“ – und hängt seit einigen Jahren auf Abruf im Keller. Heute hatte mein Ältester Bedarf – und passte ziemlich gut rein. Mein Sohn ist 20 Zentimeter größer als ich, erheblich breiter und hat entsprechend auch längere Arme. Das Herauskramen eines alten Fotos bestätigt: Die Jacke war schon immer zu groß; ich hab`s nur erst gemerkt, als ich sie von außen betrachtet habe.

Auch in anderen Fragen kann ein Perspektiv-Wechsel die Augen für sonst verborgene Tatsachen öffnen…

Meine kleine Schwester

In einer Mail an mich und eine dritte Person bezeichnete mich unlängst mein Bruder mit „meine kleine Schwester“ – wohl auch um mich zu unterscheiden von seiner großen Schwester. Interessanterweise fand ich diese Formulierung merkwürdig. Wie aus der Zeit gefallen. Ich selbst würde wahrscheinlich nicht „mein großer Bruder“ über ihn sagen, sondern einfach nur mein Bruder. Zwar fühlte ich mich nicht diskriminiert, aber – irgendwie kleiner.

„Klein“ oder „groß“ spielt in unserem Alter keine Rolle mehr, oder? Ich bleibe immer die kleine Schwester meines Bruders und meiner Schwester, aber es ist irrelevant. Oder?

In dem Umfeld, in dem ich seit über 20 Jahren lebe, bin ich in erster Linie Dagmar. Viele meiner Bekannten wissen gar nicht, dass ich überhaupt Geschwister habe. Meine gesamte Vergangenheit spielt keine Rolle. Scheinbar. In Wirklichkeit ist meine Vergangenheit immer Teil von mir und hat mich zu der Dagmar gemacht, die ich heute bin. Sogar dass ich jemandes kleine Schwester bin, wird sicher deutlich in meinem Leben, auch wenn ich es nicht bemerke. Es sei denn, mein Bruder bezeichnet mich so.