Nahtloser Übergang

„Ein Jahr ist wirklich kurz“, sagt der Freund meines Sohnes, der drei Monate vor dem Ende seines FSJ ist, „gerade habe ich damit angefangen und musste alles kennenlernen. Jetzt bin ich richtig da – und schon ist es fast wieder vorbei. Der Übergang war irgendwie nahtlos von Ankommen zu Abschied nehmen.“

Ich denke: 25 Jahre sind wirklich kurz. Gerade habe ich unsere Kinder geboren und durfte Familienleben kennenlernen. Jetzt zieht einer nach dem anderen aus; Familie wie bisher ist schon fast wieder vorbei. Der Übergang scheint irgendwie nahtlos zu sein – und meine Emotionen kommen nicht ganz so schnell hinterher.

Vorübergehend

Frederick Buechner empfand Wehmut, als seine Töchter zum College gingen – wie bei jedem Abschied. Aber er wusste, sie würden noch oft als Familie zusammenkommen. Erst im Nachhinein realisierte er, dass dieser Abschied anders war. Von da an würden die Mädchen ihre Eltern weiter besuchen, aber nie wieder bei ihnen zu Hause sein. Das bisherige Miteinander war endgültig vorüber.

Bei uns ging vor anderthalb Jahren der Älteste zum Studium und vor sechs Monaten der zweite Sohn ins Ausland. Im Gegensatz zu Buechner wusste ich im Moment des Abschieds jedesmal: Wir sind noch immer Familie – aber das `Vorbei´ hat schon begonnen.

Im Sommer wollen wir zu sechst zum Flughafen fahren und den Rückkehrer abholen. Nach einem Jahr sind wir dann (mal wieder) zu siebt unterwegs. Wir freuen uns sehr darauf, auch weil klar ist, dass dieser Zustand nur vorübergehend sein wird – und kostbar.

Eine ganz normale Familie?

„Wenn die Familie in Ordnung ist, wird der Staat in Ordnung sein; wenn der Staat in Ordnung ist, wird die große Gemeinschaft der Menschen in Frieden leben.“
Konfuzius

Ein Freund von uns lebt seit anderthalb Jahren getrennt; er und seine Frau haben drei kleine Kinder. Die Jüngste ist drei Jahre alt und kann sich wahrscheinlich kaum noch an ein Leben mit Mama UND Papa zu Hause erinnern. `Normal´ ist für sie, dass ein Elternteil zu Hause – und für alles allein zuständig – ist: Beruf, Haushalt, Kindertransporte und -betreuung. Familienleben im klassischen Sinn kennt sie nicht.

Durch meine Oma kenne ich den Spruch: „Liebe Seele, hab Geduld, es haben alle beide Schuld.“ Durch meine Ehe, weiß ich, dass die Aussage stimmt – und dass Kinder NIE die Schuld daran tragen, wenn eine Ehe auseinander bricht. Dennoch sind sie diejenigen, für die eine Trennung den größten Einschnitt bedeutet – sowohl kurzfristig als auch langfristig. Wenn man Konfuzius glauben darf, sind sie nicht die Einzigen.

Familie: genau das

Als Familie macht man Dinge gemeinsam: wohnen und essen, diskutieren, streiten, lachen und weinen, spielen, manchmal sogar arbeiten. Einfach so zweckfrei zusammen zu sein – das ist wunderbar und außerdem genau das, was Familie am Leben hält.

Doch so schön das Miteinander auch ist: Man muss auch mal raus, allein sein, andere Menschen treffen. In einem guten Maß ist diese Unabhängigkeit wichtig und belebend – sowohl für den Einzelnen als auch für die ganze Familie.

Was aber, wenn man sich zu sehr unabhängig macht von der Familie? Dann leidet das Familienleben – ob man es will oder nicht. Einfach so zweckfrei zusammen zu sein: Das ist offenbar für einige (in einem bestimmten Alter) nicht sehr attraktiv und bleibt aber genau das, was Familie am Leben hält.

Nicht systemrelevant?

Von Konfuzius stammt: „Wenn die Familie in Ordnung ist, wird der Staat in Ordnung sein; wenn der Staat in Ordnung ist, wird die große Gemeinschaft der Menschen in Frieden leben.“

Ich produziere keine lebensnotwendigen Güter und bin nicht im Gesundheitssystem tätig. Ich verkaufe nichts – und verdiene nicht das Geld, das wir zum Leben brauchen. (Nicht einmal Kunst ist mein Metier.) Ich bin offenbar nicht systemrelevant, aber trotzdem wichtig – wenn auch nur für meine Familie …