Vom Sein und vom Tun

Ein Freund von mir ist gerade pensioniert worden. Offiziell arbeitet er nicht mehr; von außen betrachtet hat er allerdings nur die Inhalte getauscht: Die Stunden, in denen er vorher arbeitend beschäftigt war, verbringt er jetzt weiter arbeitend – nur nicht mehr beruflich. Das ist in Ordnung, denn er ist vielfältig interessiert. Schade finde ich jedoch, dass er gestresster wirkt als vor seiner Pensionierung: Zu viele verschiedene Projekte muss er parallel jonglieren.

Ich kenne ihn schon sehr lange, er hat immer viel gearbeitet. Offensichtlich kann er damit nicht einfach aufhören. Was ich am meisten an ihm schätze, hat jedoch weniger mit seinem Beruf zu tun als mit seinen menschlichen Stärken: Er ist ein guter Zuhörer und ein kluger Ratgeber. Daher bedauere ich es, dass er noch immer sehr wenig Zeit hat für diese beiden so wichtigen Gaben. Aus meiner Sicht wäre es schön, er würde in Zukunft mehr sein als tun. Wann, wenn nicht jetzt?

Nur …

„Ich wäre nie auf die Idee gekommen, nicht zu arbeiten.“ Das klingt fortschrittlich und emanzipiert. Der Satz stammt von einer Politikerin, die in der DDR aufgewachsen ist. Ich lese ihn in einer Sonderausgabe zum Tag der Deutschen Einheit. Gleich nach dem Zitat steht da: „Nahezu alle Ostfrauen würden diesen Satz wohl unterschreiben.“ Ach ja?, denke ich. Bin ich auch eine von diesen Ostfrauen, obwohl ich inzwischen im Westen lebe?

„Ich wäre nie auf die Idee gekommen, für eigene Kinder nicht zu Hause zu bleiben.“ Diesen Satz hätten bis vor zehn, fünfzehn Jahren (wahrscheinlich?) nahezu alle Westfrauen unterschrieben. Merkwürdigerweise klingt er nicht genauso fortschrittlich und emanzipiert. 

Aber: Nicht alle Ostfrauen sind arbeiten gegangen, weil sie es unbedingt wollten; nicht alle Westfrauen sind nicht arbeiten gegangen, weil sie nicht durften. Gesellschaftliche Gegebenheiten spielen eine große Rolle – und unsere persönliche Überzeugung wird von ihnen mehr beeinflusst, als wir uns eingestehen wollen.

Jedes Jahr um den 3. Oktober herum geht es um die Unterschiede zwischen DDR und BRD. Diese lassen sich anscheinend bestens illustrieren am Beispiel der (Nicht-)Berufstätigkeit von Frauen: `In der DDR konnten alle Frauen arbeiten gehen – und können es noch. Dort passte das Rollenverständnis und die Infrastruktur. In der BRD mussten die meisten Frauen zu Hause bleiben. Hier herrschte ein anderes Rollenverständnis und dementsprechend auch eine andere Infrastruktur. Zum Glück ändert sich das gerade…´ Wertfrei klingt das nicht. 

Mich nervt es jedes Jahr wieder neu. Als wären berufstätige Mütter eine nicht in Frage zu stellende Errungenschaft, die keinen Preis hat – außer vielleicht den, der in ausreichend Kindertagesstätten fließt. Und als würden alle „nicht arbeitenden“ Mütter genau das tun – nicht arbeiten. Solche Sätze sorgen nicht für Gleichberechtigung und die freie Wahl, sondern für Druck, der Mütter dort erwischt, wo sie besonders empfänglich sind: Mutter wollen sie sein; aber nur Mutter dürfen sie nicht sein wollen. Frau scheint nur gleichberechtigt und gleichwertig zu sein, wenn sie arbeitet – aber bitte nicht nur zu Hause.

Dadurch fällt es jungen Müttern heute schwer, für ihre Kinder länger als gesellschaftlich akzeptiert zu Hause zu bleiben. Sie müssen sich erklären, wenn sie „nicht arbeiten“ möchten – als wäre die Betreuung von Kindern nur Arbeit, wenn jemand anderes als die Mutter sie leistet. Als wäre all das, was nicht berufstätige Mütter sonst noch tun, nur nebensächlich und genauso gut nach dem Job zu erledigen: Haushalt, Hausaufgabenbetreuung, Ehrenamt, Nachbarschaftshilfe usw. Und auch als wäre es eben nicht genauso akzeptiert, wenn man sich heutzutage für Zeit und gegen Eile entscheidet: Zeit für Kinder und Familie, Zeit für Gespräche mit Menschen und für Unvorhergesehenes.

Es klingt so, als wären nur berufstätige Mütter fortschrittlich und emanzipiert. Die nicht berufstätigen finden sich durch solche Formulierungen automatisch einer anderen Kategorie zugehörig: Wer wie ich nur Hausfrau und Mutter ist, gilt als altmodisch; wir sind nicht nur finanziell, sondern auch in anderer Hinsicht abhängig – von unseren Männern und von einem längst überholten Rollenverständnis. Dass wir gern und ganz bewusst nur zu Hause arbeiten, lese ich nicht heraus aus solchen Betrachtungen. Aber vielleicht ist das auch nur meine Interpretation und nur ich habe Zeit, mir Gedanken darüber zu machen …