Anders vorbei

Unserem Keller sieht man es kaum noch an, dass dieser sechs Wochen überflutet war: Alles steht wieder an seinem Platz; nur ein weißer Rand abgelagerter Salzkristalle an den Wänden erinnert an die Zeit der Gummistiefel. Ich lüfte viel – aber das mache ich sowieso und immer.

Auch die Wiesen und Feldern ringsum sind größtenteils wieder normal nass. Dennoch spürt man die Folgen des Hochwassers hier deutlich mehr als in unserem Keller: `Wo es lange sehr nass ist, wächst buchstäblich kein Gras mehr´, könnte man sagen. Für die Kühe meiner Freundin ist das höchst bedauerlich, die fressen nämlich gern Gras und machen daraus Milch. Weil es jetzt am normalen Futter mangelt, müssen sich die Bauern etwas einfallen lassen, um die Folgen des Hochwassers zu kompensieren. Otto Normalverbraucher dagegen bleibt von diesen komplett verschont: Denn im Supermarkt ist weiterhin immer gleich viel Milch zum gleichen Preis da – es sei denn, die Kühltheke geht kaputt.

Das nennt man wohl entkoppelte Verhältnisse …

(Ja, ich weiß, dass Märkte und Preise stabil sein müssen etc. Trotzdem erscheinen mir die Unwägbarkeiten irgendwie ungleich verteilt.)

Schön ist anders

Ich komme oft an einem Garten vorbei, den ich rein optisch eher pragmatisch nennen würde als `schön angelegt´. Gerade im Moment ist er besonders karg: In den künftigen Gemüsebeeten befindet sich noch blanke Erde; dazwischen markieren ein paar Steinplatten die Wege – krumm und schief. Die Rasenfläche ist klein und wirkt vernachlässigt, das wird so bleiben: Ich weiß aus eigener Anschauung, dass der Schwerpunkt dieser Gärtner eindeutig auf dem Nutzgarten liegt.

Zwischen Gemüseabteilung und Rasenfläche `wächst´ ein Hibiscus-Busch: momentan mit vielen knallroten Blüten, einige voll aufgegangen, andere noch knospig. Es ist zwar schon frühlingshaft warm, aber für Hibiscus-Blüten ist es auf jeden Fall zu früh. Der Busch ist nicht echt, sondern ein reines Deko-Element aus Kunststoff.

Ich finde das interessant: Der Rest des Gartens ist total zweckmäßig; es scheint den Besitzern nicht wirklich um Attraktivität zu gehen. Das ist total in Ordnung. (Auch mir ist in mancher Beziehung `praktisch´ deutlich wichtiger als `schön´, sagen zumindest meine Kinder.) Und deshalb verstehe ich nicht, wieso diese Gartenbesitzer einen Plastik-Hibiscus in die Erde graben. Meiner Meinung nach passt er mit seiner künstlichen Makellosigkeit überhaupt nicht in diesen Garten – wirklich schön ist anders.

Andere Länder, andere Sitten

Auf der Autobahn in Deutschland dient die linke Spur als Überholspur für alle, die deutlich schneller als der Rest fahren wollen. Letztere merken das und bleiben meist rechts, aber nicht immer: Zum Überholen scheren sie nach links aus – und tun dies in der Regel zügig. Viele rasen, einige schleichen, der Rest wechselt immer wieder hin und her: Eine gewisse Hektik ist auf deutschen Autobahnen immer mit dabei.

Wir kennen es aus Dänemark, dass die Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen das Fahren entspannt. Keiner rast, keiner schleicht: Alles läuft gleichmäßig und weniger hektisch; wir passen uns gern an.

Das ist nicht überall so, denn in unseren westlichen Nachbarländern läuft es beziehungsweise fährt man anders: Der Verkehr bewegt sich parallel auf den vorhandenen Spuren; die erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 120 bis 130 Stundenkilometern wird von kaum einem Einheimischen tatsächlich erreicht. Die ganz linke Spur dient als Fahrspur für alle, die ebenso schnell oder minimal schneller als der Rest unterwegs sind. Überholvorgänge dauern sehr lange

Dieses Prinzip beherrschen alle – nur wir tun uns schwer damit. Keiner rast, viele schleichen: gern auch ganz links. Das Fahren verläuft in ungleichmäßigen Wellen, entspannt ist das keineswegs – jedenfalls nicht für Durchreisende. Andere Länder, andere Sitten; auch hier passen wir uns an, aber nicht ganz so leicht.

Ganz anders

Fünf Kinder, zwei sind schon aus dem Haus, das dritte verbringt die nächsten zwei Wochen auf einer Freizeit: Wir sitzen zu viert im Wohnzimmer. „Wie soll das denn werden, wenn wir ab dem nächsten Sommer immer nur zu viert sind“, stöhnt Kind Nummer 4, „wie langweilig ist das denn!“ Kind Nummer 5 schweigt; sein Gesichtsausdruck spricht Bände: Ab dem übernächsten Sommer wird er ganz allein sein mit uns. Der manchmal anstrengende Trubel der vergangenen Jahre ist noch nicht lange her und doch vorüber. Wir haben deutlich mehr Ruhe im Haus – und streiten weniger. Aber das Leben zu siebt war irgendwie: lebendiger.

Es ist jetzt nicht besser oder schlechter als noch vor drei Jahren, aber es ist ganz anders.

Anders

Menschen haben dunkle oder helle Haut, sind klein, groß, dick oder dünn, blitzgescheit oder lernbehindert, jung oder alt. Wir haben Geschwister oder auch nicht, sind alleinstehend, liiert, verheiratet oder geschieden, kinderreich oder kinderlos. Manche sind psychisch labil, einige nervenstark; es gibt chronisch Kranke und Leute wie die Queen. Der eine ist risikofreudig, der andere super vorsichtig – und unterschiedlich belastbar sind wir auch. Extrovertierte sind in der Regel lauter als Introvertierte; schüchterne Persönlichkeiten stehen eher in der zweiten Reihe, großspurige und impulsive Typen dagegen ganz vorn. Außerdem ist, wer viel besitzt, nicht unbedingt glücklicher als ein armer Schlucker.

Alle diese Eigenschaften, Umstände, Begabungen und Begrenzungen prägen uns und machen uns zu denen, die wir sind. Nicht zwei Menschen auf der Welt ähneln sich vollkommen oder leben genau gleich. Wir bemerken ja manchmal sogar, dass wir heute anders `drauf sind´ als noch vor 20 Jahren – und reiben uns am stärksten an denen, die so sind wie wir!

Kurz: Wir sind verschieden – `divers´: schon immer gewesen und in vielerlei Hinsicht. Jeder, der in Beziehungen lebt, merkt das und findet es sowohl gut als auch herausfordernd. Es ist mir daher völlig schleierhaft, wieso `divers´ heutzutage so betont wird: als würden unsere unterschiedlichen Identitäten erst jetzt gebührend gewürdigt – und hätten sowieso hauptsächlich (oder gar ausschließlich) mit unserer sexuellen Orientierung zu tun.

Rollstuhlfahrer kommen in Deutschland noch immer nicht in jede Schule; eine Theaterführung für Gehörlose ist (zumindest in unserer Kleinstadt) eine Besonderheit; Bürgersteigkanten, die Sehbehinderten die Orientierung erleichtern sollen, stellen Stolperfallen dar – für eilige Radfahrer … Wir werden noch lange brauchen, bis in unserem Land wirklich JEDER gleichermaßen berücksichtigt und umsorgt wird. Von Staats wegen scheint das Augenmerk momentan vor allem auf einer Form von divers zu liegen, der Geschlechtlichkeit: Es geht um die dritte Toilette, urkundliche Einträge oder sprachliche Anpassungsversuche. Aber auch in diesem Bereich – wie in allen anderen – beginnt gegenseitige Wertschätzung bei uns persönlich: in Form von freundlichem Respekt und Rücksichtnahme allen gegenüber – selbst wenn sie anders sind als wir.

Anders als erwartet: besser

Beim Spazierengehen gelingt es mir leichter, in Ruhe zu beten. Draußen klingelt kein Telefon, ist kein Einkaufszettel zu schreiben, streift mein Blick nicht über den verstaubten Fußboden. Aber auch im Wald `stören´ Dinge meinen Fokus: andere Spaziergänger, der Klang des Kuckucks, ein Reiher am Teich oder ein Reh … Manchmal läuft es anders:

Ich gehe spazieren und laufe direkt hinein in einen ausgiebigen Regenschauer. Zwar habe ich eine Regenjacke an, merke aber, dass diese der niederprasselnden Wassersäule nicht standhalten wird. Umkehren mag ich dennoch nicht – und innerhalb der nächsten 45 Minuten arbeitet sich die Nässe durch alles hindurch, was ich auf dem Leibe trage. Ich könnte so schnell wie möglich wieder nach Hause gehen – und habe das sicherlich auch schon getan. Nicht so diesmal; ich arrangiere mich mit dem Regen und erwarte, dass Gott mit mir unterwegs ist. Es ist keine bewusste Entscheidung, eher ein trotziges: Jetzt erst recht!

Ohne Regen wäre es gemütlicher, klar. Aber nicht immer ist es das Beste, wenn eintritt, was wir uns erhoffen: Wenn es `junge Hunde´ regnet, ist sonst kaum jemand unterwegs, kein Tier zu hören oder zu sehen. Und Gott überrascht mich – ich bete gänzlich un-abgelenkt und spüre große Freude und tiefen Frieden. Als ich wieder zu Hause ankomme, sind nur meine Haare noch trocken und mein Gesicht; ich habe mich lange nicht so lebendig und zufrieden gefühlt.

Manches, was Gott uns gibt, ist nicht in unserem Sinne; wir wünschen es uns anders – und haben eine konkrete Vorstellung davon, wie. Vielleicht wäre es klug, uns stattdessen mit Gegebenheiten zu arrangieren. Denn nur, wenn wir loslassen, was wir haben wollen, bekommen wir den Blick frei für das, was Gott uns geben möchte. Oft ist das anders als erwartet: besser.

Richtig, falsch oder anders?

Aus Fehlern lernen wir, heißt es. Aber selbst wenn wir keine Angst hätten, Fehler zu machen – sie sind nicht unser Ziel. Stattdessen bemühen wir uns (vielleicht unbewusst), das vermeintlich Richtige zu tun Dinge. Dabei gibt es oft nicht nur eine „richtige“ Lösung, denn es heißt auch: Viele Wege führen nach Rom. Keiner von ihnen ist nur falsch, keiner nur richtig.

Trotzdem habe ich oft den Eindruck, etwas falsch zu machen – jedesmal, wenn ich mich für eine andere als die scheinbar optimale Alternative entscheide. „In diesen Kategorien denke ich nicht“, sagt jemand, der mir nahesteht. Um „falsch“ oder „richtig“ gehe es abgesehen von ethischen Fragen in den seltensten Fällen. Ich würde das gern glauben – und mutiger anders leben.

Normal oder anders?

Im Januar liegt das Jahr normalerweise vor mir wie ein offenes Buch mit vielen beschriebenen Seiten: Feste Termine, der Sommerurlaub, Einladungen, besondere Geburtstage… Dieses Jahr kam das Corona-Virus dazwischen und mit ihm diverse Absagen, wochenlang keine richtige Schule und eine merkwürdige, andere Normalität. Die nächsten Monate liefen anders, als ich sie mir vorher vorgestellt hatte – nicht „normal“, „Familie pur und sonst kaum etwas“ in Dauerschleife.

Vor meinem 50ten Geburtstag diesen Sommer war ich wochenlang leicht angespannt: Ich wollte nicht groß feiern, das Ereignis aber auch nicht so wenig beachten wie einen normalen anderen Geburtstag. Und – ganz unbegründet – fürchtete ich mich tatsächlich ein wenig davor, fünfzig zu werden. Der Tag selbst war sehr schön. Meine Geschwister waren für ein paar Stunden da – trotz weiter Anreise. Einige dachten an meinen Geburtstag, andere nicht. Im Nachhinein verlief er anders, als ich ihn mir vorher vorgestellt hatte – nicht furchterregend, sondern eher schön „normal“.

Einige Jahre träumte ich davon, den West Highland Way in Schottland zu wandern. Ich stellte mir die Landschaft vor und auch das Wandern an sich. Dieses Jahr überraschte mich mein Mann mit einer gebuchten Wanderreise. Die Tage in Schottland wurden wunderbar und besonders – aber ganz anders, als ich sie mir vorher vorgestellt hatte – viel anstrengender, gleichzeitig erholsamer und eindrücklicher als ein „normaler“ Urlaub.

Normal ist weder gut noch schlecht; normal ist nur eine Vorstellung.

Anders

Die meisten, die 2020 einen runden Geburtstag feiern wollten, mussten und müssen noch umdisponieren. Einige meiner Freunde haben ihre Feiern – gezwungenermaßen – abgesagt oder auf das nächste Jahr verschoben. Trotzdem fallen die Geburtstage nicht aus. Die ursprünglichen Pläne sind durch die beschränkenden Maßnahmen zwar erschwert oder sogar ins Wasser gefallen. Das muss aber nicht bedeuten, dass der Tag selbst ein Reinfall wird – im Gegenteil: Die Gemeinschaft mit einigen wenigen Freunden wird dem nullenden Geburtstagskind vielleicht sogar intensiver in Erinnerung bleiben als eine große Sause mit vielen Menschen…

Hier so, da anders

Ein Urlaub erlaubt nur einen kleinen Einblick in und hinterlässt einen sehr unvollkommenen Eindruck von dem Ort, wo wir sind. Trotzdem: Hier im ländlichen Südengland und jetzt (Anfang Oktober) fällt mir im Gegensatz zu Deutschland auf:

Kaum einer benutzt ein Fahrrad. Spazierengehen mit dem Hund – ja. Joggen – bisweilen. Aber das Rad, um von A nach B zu kommen? Fehlanzeige. Ausnahme: Moutainbikes und Rennräder sind Sportgeräte.
Briefmarken gibt`s nach Farben sortiert, glaube ich. Rote – mit der Königin drauf – kosten 80 Cent pro Stück, das steht aber nicht drauf. Ich nehme an, blaue haben einen anderen Preis – ich weiß es aber (noch) nicht.
Bettdecken. Groß und mit extra Laken zwischen Decke und Mensch. Dieses ist für Ungeübte nachts entweder im Weg oder zu kurz.
Für Instant-Kaffee und Orangenmarmelade fehlen mir die Worte.
Auch als Fußgänger immer nach links ausweichen – sonst entschuldigen sich die Briten für die Beinahe-Kollision.
In Deutschland gibt es Wanderwege, hier gibt es „querfeldein“.
Regen? Erstaunlich wenig.
Tee. Können die Ostfriesen auch.
Postkarten – unschlagbar.
In Deutschland gibt es Supermärkte, die den Zuckergehalt in Nahrungsmitteln reduzieren wollen. Die Briten haben Chocolate Brownies…

(Unvollständige Liste.)