Mein Mann und mein Puls

„Dir kriecht da etwas Schwarzes aus dem Ohr“, sagt mein Mann. Er sitzt mir gegenüber auf der Terrasse und schaut mich an. WAS? Mein Puls geht hoch, ich erschrecke und fasse mir ans Ohr. Ist es eine Spinne, ein Ohrenkneifer oder was sonst? Ich spüre nichts, nach kurzer Zeit ertaste ich nur einen Fussel. Erleichtert zeige ich ihn meinem Mann. Er lächelt wissend: „Ich hätte auch sagen können: `Da hängt etwas Schwarzes an deinem Ohr.´, aber ich wollte es ein bisschen dramatischer machen.“ Mein Puls geht hoch …

Selbstsicher

Immer wieder bin ich erstaunt, wie selbstsicher manche Menschen auftreten: Gerade mache ich ein Online-Training in englischer Sprache zum Thema `Handstand´ bei einer jungen deutschen Frau. Soweit ich es einschätzen kann, ist sie fachlich gut: Ich schätze ihre Übungsaufgaben und vertraue ihrer Vorgehensweise. Ihr Englisch dagegen ist nicht so überzeugend; außerdem ist sie ein wenig `verpeilt´ – so würde ich keinen Online-Kurs anbieten. Das hängt weniger mit ihrer Kompetenz zusammen als damit, welchen Anspruch ich an einen eigenen Internet-Auftritt hätte.

Diese Frau ist selbstsicher und dabei sehr unbekümmert; was sie nicht gut kann, stört mich wenig: Ihre Selbstsicherheit bewundere ich.

Ein Arzt, den ich manchmal (selten) aufsuche, tritt mir gegenüber ebenso selbstsicher auf. Soweit ich es einschätzen kann, ist er fachlich gut: Ich schätze seine Diagnose und vertraue seiner Therapie. Seine Erklärungen sind jedoch völlig emotionslos, fast unfreundlich. Dadurch komme ich mir jedesmal abgefertigt vor – so würde ich an seiner Stelle nicht mit Patienten kommunizieren. Auch das hängt weniger mit seiner Kompetenz zusammen als damit, welchen Anspruch ich an mich als Ärztin hätte.

Dieser Mann ist selbstsicher und dabei sachlich-distanziert; was er nicht gut kann, stört mich sehr: Seine Selbstsicherheit ist mir unangenehm.

Der Wert unserer Arbeit

Wir haben Ferien und mein ältester Sohn macht ein Praktikum – ohne Bezahlung. Die Arbeit ist anstrengend und nicht immer erfüllend; er geht dennoch meist klaglos hin. Ab und zu schimpft er: „Ich arbeite 38,5 Stunden in der Woche und verdiene keinen Cent. Das ist blöd.“

Ich kann ihn ein bisschen verstehen: Ich mache kein Praktikum, sondern arbeite zu Hause – ebenfalls ohne Bezahlung. Hausarbeit ist mehr oder weniger anstrengend und nicht immer erfüllend; ich erledige sie dennoch meist klaglos. Ab und zu denke ich: `Mit dem, was ich zu Hause tue, verdiene ich keinen Cent. Das ist einfach so.´

Was unsere Arbeit wert ist, misst sich nicht nur daran, wie viel Geld wir mit ihr verdienen.

Schatten

Die meisten Menschen sind mir in irgendeiner Weise überlegen: Sie sind sprachlich versierter, gedanklich sortierter, selbstbewusster, praktisch begabter, musikalischer, sportlicher, hübscher, organisierter oder sonst irgendetwas. Ich stehe in einer bestimmten Eigenschaft in ihrem Schatten. Es ist mir bewusst, aber ich spüre es kaum – vielleicht weil ich auf einem anderen Gebiet meinen eigenen Schatten werfe. Im Grunde bin ich mit meiner persönlichen Mischung aus Stärken und Schwächen ganz zufrieden.

Anders ist es, wenn ich Menschen treffe, die mir in allem (ich übertreibe nur ein ganz kleines bisschen) überlegen sind – wie eine Frau in meinem Umfeld. Ich kann mich noch so gut auf Begegnungen mit ihr vorbereiten: Der Schatten, den sie wirft, ist zu groß für mich – als ganzer Mensch fühle ich mich unterlegen und minderwertig. Diese Frau ist sehr liebenswert und weiß nichts von ihrer Wirkung auf mich. Nach jedem Treffen brauche ich ein paar Tage, um mich davon zu erholen. Ich würde gern aus diesem Schatten heraustreten: Dafür muss ich mich nicht mit der Frau, sondern mit mir selbst anfreunden.

Nochmal Synchronspringen

Die deutschen Synchronspringer gewinnen Bronze und freuen sich unbändig. Der Jubel nach diesem Erfolg will raus in Bewegung oder Geschrei. Nur kurz umarmen sie sich; in einem solchen Moment verharrt man ungern still in den Armen eines anderen – und sei es auch der Trainingspartner. Die eigene Freude ist riesengroß und lässt sich gut allein aushalten.

In meinen Gedanken sehe ich die traurigen Russen nach ihrem gescheiterten Sprung. Sie umarmen sich nicht; dabei bräuchten sie in einem solchen Moment die Arme eines anderen – am besten die des Trainingspartners. Die eigene Trauer ist riesengroß und lässt sich kaum allein aushalten.

Gemeinsam oder jeder für sich

Synchronspringen ist Team-Arbeit. Es kommt auf beide Sportler an. Einer allein kann noch so gut sein – und doch nichts erreichen. Jeder für sich muss möglichst fehlerfrei springen und beide zusammen schön synchron: Dann bekommen sie eine hohe Wertung und freuen sich gemeinsam. Wenn einer seinen Sprung jedoch nicht korrekt zu Ende führt, ist die Bewertung für beide eine Null. Es reicht nicht, wenn einer super springt; aber es reicht, wenn einer patzt.

Bei den olympischen Spielen haben die russischen Synchronspringer nach ihrem letzten Sprung keine Chance mehr auf eine Medaille. Einer von beiden schafft die letzte Drehung nicht vollständig vor dem Eintauchen, der Sprung wird mit Null bewertet. Sie wissen sofort, dass sie `aus dem Rennen´ sind: Der eine ist am Boden zerstört; der andere packt sichtlich wütend seine Tasche und verlässt die Schwimmhalle. Sie reden nicht miteinander, vielleicht tun sie es später. Aber in diesem Moment leidet jeder für sich.

Was geschieht

Es heißt, man würde mit seinen Aufgaben wachsen. Das mag in gewisser Hinsicht stimmen – im Hinblick auf meine Muskeln, Nerven oder meine Auffassungsgabe. Aber ICH bin so viel mehr als ein Körper mit Muskeln und Nerven – Menschen haben Geist und Seele. Letztere trainiere ich nicht auf der Überholspur, dafür brauche ich Zeit und Muße. Allerdings bleibt heutzutage und in unserer Gesellschaft immer weniger Zeit, in Ruhe von einem zum nächsten zu gehen: „Nach der Herausforderung ist vor der Herausforderung“, heißt es. Menschen haben `die Hände voll´ mit ihrem Alltag, sind immer beschäftigt und wirken getrieben. Für Reflexion ist kaum Gelegenheit. Dabei sind die Momente `dazwischen´ mindestens ebenso wichtig: Durch sie erkenne ich meine Motivation, schöpfe Kraft – und merke, dass nicht viel wirklich in meiner Hand liegt. Innehalten bewirkt, dass in uns etwas geschieht. Das kann (auch für andere) bedeutsamer sein als das, was durch uns geschieht.

Kein guter Deal

Wir verleihen unser großes Auto und erhalten als Ersatz zwei kleine. Eines davon ist wirklich klein, bei dem anderen funktioniert die Servolenkung nicht. Angesichts anstehender Autofahrten ist der Tausch kein guter Deal für uns. Wir sind trotzdem flexibel: In den nächsten zehn Tagen werden wir beide Wagen vor allem stehen lassen – und noch mehr Fahrrad fahren.

Kontaktaufnahme

Ich laufe gegen den Wind und nähere mich langsam einem vor mir gehenden Menschen mit Hund. Der Mensch dreht sich des öfteren um und sieht mich kommen, der Hund nicht. Als ich die beiden fast erreicht habe, bemerkt mich der Hund, erschrickt und kommt (zugegeben: schwanzwedelnd) auf mich zu. Ich halte an. Der Mensch hat Knöpfe im Ohr und telefoniert offensichtlich. Um den Hund von mir abzulenken, schnipst er wortlos mit dem Finger und zeigt von mir weg. Der Hund gehorcht zögernd; ich laufe weiter. Ein paar Sekunden später höre ich aggressives Rufen hinter mir: „Emma, hierher!“ Leicht alarmiert drehe ich mich um und sehe den Hund (zugegebenen: schwanzwedelnd) auf mich zu rennen. Wieder halte ich an. Einige weitere aggressive Rufe später („Emma, hierher, hierher!“) trollt sich der Hund und trabt zurück zu seinem Menschen; ich laufe weiter. Alles zusammen dauert kaum zwei Minuten, aber es beschäftigt mich die nächsten zwanzig:

Dass der Hund Kontakt aufnehmen wollte, verstehe ich – Hunde sind soziale Wesen und verhalten sich dementsprechend. Dass der Mensch keinen Kontakt aufnehmen wollte, verstehe ich nicht – Menschen sind soziale Wesen und verhalten sich manchmal anders.

Gut gebrüllt?

Ich mache mir Gedanken über etwas, was mich sehr beschäftigt, und schreibe diese auf. Das Ergebnis – meiner Meinung nach ausgewogen und lesenswert – schicke ich zu einem Freund. Dieser liest den Text brav und quittiert meine Bemühungen mit „gut gebrüllt, bin eigentlich mit allem einverstanden“. Damit holt er mich flugs auf den Boden der Tatsachen zurück – obwohl er das sicherlich nicht beabsichtigt. Sein `Kompliment´ ist für mich wie eine etwas unsanfte Erdung: Meine Gedanken sind gut, aber nicht neu; ich formuliere nicht ausgewogener als andere und überzeuge niemanden mit meinen klärenden Betrachtungen. Was mich Mühe und Zeit gekostet hat, ist weder besonders wichtig noch ändert sich dadurch der Lauf der Dinge – wahrscheinlich inspiriere ich nicht einmal meinen Freund.

Meine Gedanken sind nicht einzigartig, ich weiß das. Trotzdem werde ich weiter aufschreiben, was mich beschäftigt. Für mein Gemüt ist es wichtig, dass ich regelmäßig das Durcheinander in meinem Kopf sortiere – und das kann ich am besten schriftlich. MIR wird dadurch einiges klarer, ICH verändere mich – und erlebe mich den manchmal irritierenden Umständen gegenüber als weniger ohnmächtig. Das sollte mir reichen. Nächstes Mal behalte ich meine Gedanken für mich und spare mir mein `gutes Gebrüll´.