Beim Arzt

Im Wartezimmer bekomme ich mit, dass eine ältere Dame, die ihren Mann begleitet, weggeschickt wird – wegen des Infektionsgeschehens müssen Begleitpersonen draußen warten. Eine halbe Stunde später bin ich fertig behandelt und gehe. Eine Etage tiefer, im Flur, auf einer Bank sitzt die Frau; im Treppenhaus strahlt nur Kunstlicht von der Decke, es ist kühl. „Ach, Sie sitzen immer noch hier?“, frage ich. Die nächsten zehn, fünfzehn Minuten unterhalten wir uns: Gestern seien sie auch schon hier gewesen – da bekam sie Tropfen und ihr Mann wartete im Flur. Die Tochter wolle man ja auch nicht immer fragen, die habe genug zu tun. Sie spricht mit einem süddeutschen Zungenschlag, ich frage nach. Ja, von der Schweizer Grenze komme sie ursprünglich, aber der Mann sei Berufssoldat gewesen und ständig umgezogen. Hier seien sie dann hängengeblieben – zum Glück! Die eine Tochter sei seit einer Gehirnblutung vor 20 Jahren schwer behindert, da sei es gut, dass alle in der Nähe wohnten.

Irgendwann kommt eine Arzthelferin und ruft nach der `Begleiterin für Herrn XY´. „Das bin ich!“, sagt sie erfreut und verabschiedet sich von mir: „Danke für das Gespräch, da ist mir die Zeit jetzt ganz schnell vergangen!“

80 Jahre ist diese Frau alt, ihr Mann ist 84. Sie sind seit über 50 Jahren verheiratet, jetzt im Alter nicht mehr so flexibel und noch mehr aufeinander angewiesen als früher. Und während eines Arztbesuches ihres Mannes muss diese Frau allein in einem ungemütlichen Flur auf ihn warten (mit FFP2-Maske und sehr wahrscheinlich geimpft), weil das Infektionsgeschehen so ist, wie es ist. Ich fasse es nicht.

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