Nicht
nur Kinderkrankheiten sind ansteckend; und nicht nur kleine Kinder
können sich anstecken. Neben Masern, Mumps und Röteln kann ich mich
auch starken Stimmungen nur schwer entziehen: Fröhlichkeit oder
Trauer, Aggression oder Sanftmut, Schwung oder Phlegma – alle
reißen mich auf ihre Art mit. Großzügigkeit oder Neid färben auf
meine Freigiebigkeit ab. Die Gemeinschaft mit mutigen Menschen lässt
mich über meinen Schatten springen; gegen um sich greifende
Ängstlichkeit muss ich mich aktiv wehren. Besonders
ansteckungsgefährdet bin ich sicherlich, wenn mein Immunsystem nicht
auf der Höhe arbeitet: Wenn ich unsicher bin, emotional nicht gut
aufgestellt oder einfach nur müde, ist eine Beeinflussung von außen
wahrscheinlicher.
Aber kann und will ich mich überhaupt impfen gegen das, was in meiner Umgebung los ist? Nicht in jeder Hinsicht und nicht immerzu. Denn: Geimpfte Menschen lassen sich nicht anstecken, respektive mitreißen oder überzeugen. Sie bleiben immer irgendwie unbeeindruckt und nicht betroffen. Ich empfinde solche Menschen leicht als reserviert, sie wirken auf mich tendenziell vorwurfsvoll, bremsend, vor allem aber unnahbar. Für zwischenmenschliche Nähe brauche ich Empathie – und werde durch sie verletzlich und ansteckbar. Auch ich habe klare und begründete Überzeugungen. Sie sind gut und wichtig, denn sie schützen mich gegen willkürliche Moden, unberechtigte Kritik und gefährliche Manipulation. Wenn es aber um weniger existenzielle Dinge geht, darf ich ruhig ein bisschen empfänglich sein und mich anstecken lassen.