Auf dem Gäste-WC unserer Freunde steht seit über 20 Jahren ein kleiner Bilderrahmen. Darin ist ein Briefumschlag, der damals kurz nach ihrem Einzug bei ihnen im Briefkasten lag. Die Straße stimmt nicht; der Absender hatte nur die alte Adresse notiert und darunter: `jetzt ganz in der Nähe´. Ich muss jedes Mal schmunzeln, wenn ich das lese. Wie hilflos wäre angesichts dieser Herausforderung doch die sogenannte Künstliche Intelligenz. Da braucht es schon einen einzigartig kreativen, empathischen und freundlichen Postboten auf zwei Beinen!
Meine Wenigkeit
Die Formulierung `meine Wenigkeit´ ist selten wörtlich gemeint – unterstelle ich. Wer von seiner eigenen Wenigkeit spricht, geht davon aus, dass er anderen etwas mit Mehrwert zu sagen hat. Manchmal passt es aber doch: Kürzlich hörte ich einen Redner, der eher zu den unscheinbaren, stillen und zurückhaltenden Menschen gehört. Die Bitte, hier etwas zu sagen, sei auf zwei Widerstände gestoßen, sagte er gleich am Anfang: nämlich auf seine Selbstzweifel und den Wunsch, nicht im Mittelpunkt zu stehen. Andererseits habe er sich sehr geehrt gefühlt und deshalb wolle er dieser Bitte nachkommen. Sein `meine Wenigkeit´ war ernst gemeint und absolut authentisch; was er sagte, war persönlich und wertvoll. Dass die Zuhörer ihn um einen Beitrag gebeten hatten, freute mich. Dass sie ihm am Ende stehend applaudierten, noch mehr. Beides tat ihm sicher gut, wird ihn aber weder zu einem lauten noch zu einem selbstsicheren Menschen machen – und auch das ist gut!
Saat und Ernte
Wissenschaftliche Untersuchungen sind nicht der Weisheit letzter Schluss, aber manchmal bestätigen sie den gesunden Menschenverstand. In einer Studie überprüften Forscher über mehrere Monate die Hirnaktivität von Menschen beim Lesen und Schreiben von Texten. Die einen nutzten KI-Modelle, die anderen nur Google oder gar kein Internet.
Das Ergebnis wundert mich nicht: Die KI-Kontrollgruppe war nach vier Monaten `weniger kreativ und hatte sich einen kleineren Wortschatz und weniger Wissen angeeignet´. Peter Gerjets, Professor für empirische Lehr-Lernforschung, kommentiert das mit: „Was man nicht nutzt, verliert man … das Gehirn muss trainiert werden wie ein Muskel.“ Wer sein Gehirn nicht fordere, der baue intellektuell ab, sagt er. Für die Nutzung von KI sei aber gerade das entscheidend: eigene Kreativität und kritisches Denken. Denn beides habe beziehungsweise könne KI nicht …
Ich denke dankbar an unsere Kinder. Sie sind gerade noch so durchgerutscht – bevor KI und ChatGPT in der Schule sowohl Saat als auch Ernte verhindern: das manchmal mühevolle Lesen und Schreiben von Texten ebenso wie den daraus resultierenden kostbaren Wissenszuwachs.
Urlaubsreif?
Ich schreibe gern Geburtstagskarten. Damit ich an all meine nahen und fernen Freunde und Bekannten denke, hängt in meiner Küche ein immerwährender Kalender. Heute Morgen fällt mir eine sehr alte Freundin aus Heidelberger Zeiten ins Auge; vor einer guten Woche hatte sie Geburtstag. Mist, denke ich, habe ich glatt vergessen. Egal – lieber spät als gar nicht. Ich suche ein passendes Kärtchen und schreibe ihr einen Gruß.
Schnell eingetütet, Adresse drauf … Moment mal; die Adresse ist mir noch sehr präsent – zu präsent dafür, als dass ich sie das letzte Mal für die Weihnachtspost geschrieben hätte. Sollte ich ihr doch schon schriftlich gratuliert haben? Ich fasse es nicht. Jetzt erinnere ich mich zuverlässig und zwar sehr konkret: Beim ersten Mal habe ich ihr unter anderem schöne Sommerferien gewünscht …
Was ist bloß los mit mir? Ich glaube, ich bin urlaubsreif!
Überredet
Vor einiger Zeit hatten wir die Krätze im Haus – sehr lästig. `Ich krieg die Krätze´ hat seitdem eine ganz konkrete Bedeutung für mich – und ist mit einem Gefühl von Juckreiz verbunden. „Seid ihr sie los, die Krätze?“, fragt mich eine Freundin. „Vielleicht!“ ist meine ehrliche Antwort. Dann erzähle ich ihr von dem Verlauf der Infektion und der allergischen Reaktion nach Abtöten der Krätzemilben. Dieses postskabiöse Syndrom kann eine Weile anhalten und sieht ähnlich aus wie eine Neuinfektion. Aber dagegen hilft eine antiallergische Salbe. „Möglichst ein Glukokortikoid mit dem Wirkstoff: Methylprednisolonaceponat.“, sage ich noch. Meine Freundin starrt mich an, als würde ich fließend chinesisch sprechen. Ich winke ab. Mir die beiden Fachausdrücke zu merken, fällt mir nicht so schwer: Wer Krätze im Haus hat, tut alles, sie wieder loszuwerden – und ich merke mir eben die Namen der Wirkstoffe, die helfen.
Außerdem habe ich diese nicht nur im Internet recherchiert; ich musste schon einmal darüber reden. Bei unserem Kontrollbesuch bestritt die Ärztin nämlich (anfangs), dass man Glukokortikoide gegen Krätze einsetzt. `Hab ich im Internet gelesen´ erschien mir in dem Moment keine kluge Bemerkung. Stattdessen fing ich an mit: „Sie sind die Ärztin“ und brachte besagtes postskabiöse Syndrom ins Spiel, von dem sie bei unserem ersten Besuch selbst gesprochen hatte. Ob man gegen die allergische Reaktion auf die abgestorbenen Krätzemilben nicht doch eine Creme einsetzen könne, fragte ich vorsichtig. Das half: Die Ärztin schaute selbst im Internet nach und verschrieb uns (schließlich) ein Präparat. Laut Internet ist dieses ein Glukokortikoid – mit dem Wirkstoff Methylprednisolonaceponat.
Interesse oder doch nur Neugier?
Eine junge Frau trägt ein T-Shirt mit Schriftzug auf dem Rücken. “Nobody cares until you´re rich, pretty, or dead“, steht da: Niemand interessiert sich für dich – es sei denn, du bist reich, hübsch oder tot. Sofort rattert es bei mir: Es klingt wahr, jedenfalls ein bisschen. Nicht umsonst haben sehr alte reiche Männer gern mal sehr junge arme Freundinnen oder Frauen. In vielen Zeitschriften geht es vornehmlich darum, wie man schön wird oder lange bleibt. Und der Tod macht Menschen interessant, von denen wir vorher nicht wussten, dass sie überhaupt existieren.
Andererseits stimmt es natürlich nicht wirklich: Echtes Interesse am anderen hat mehr mit ihm als Persönlichkeit zu tun und weniger damit, was er besitzt, wie er aussieht und wie spektakulär er gestorben ist. Solange es mir um Reichtum, Schönheit und den Tod eines anderen geht, bin ich nicht wirklich interessiert, sondern schlicht neugierig.
Passt oder passt nicht?
Eine meiner Töchter reitet. Ich schaue manchmal zu und freue mich an dem harmonischen Miteinander der beiden. Wenn ich dabei bin, wie sie das Pferd putzt, sehe ich erst, wie groß es ist: Die Widerristhöhe liegt deutlich über meinem Kopf. Aber weil meine Tochter selbst auch ziemlich groß ist, wirkt das Tier unter ihr nicht überdimensioniert – sie passen gut zueinander.
Immer häufiger sehe ich große Geländewagen im Stadtverkehr. Sie sind breit, hoch und vorzugsweise schwarz, was sie noch massiger wirken lässt. Meist sieht man in diesen Ungetümen den Fahrer erst beim zweiten Hinschauen. Jedes Mal denke ich dann, dass dieser im Verhältnis zur Größe des Gefährts sehr klein aussieht – sie passen nicht zueinander.
Ja zur Blitz(ent)scheidung
„Blitz-Scheidung? Sie hat schon seinen Namen abgelegt“ so lautet die Überschrift in einer Boulevard-Zeitung. Gemeint ist die Frau von Bastian Schweinsteiger, Ana Ivanović. In dem Artikel geht es darum, wie schnell die beiden geschieden sein könnten: Sie haben Wohnsitze in Spanien und der Schweiz. In beiden Ländern bräuchten sie für eine offizielle Scheidung kein Trennungsjahr einzuhalten wie in Deutschland. Auch dass die beiden getrennte Konten haben, erleichtere und beschleunige den Prozess, heißt es weiter. Nur über den Unterhalt der drei Kinder müsse man sich einig werden, dann könne alles ganz schnell gehen. Es klingt fast so, als sollten die Leser denken: Wie schön! Kein Wort darüber, wie schade es ist, dass hier gerade eine Familie auseinanderbricht. Offenbar ist das auch für die Betroffenen selbst kein Thema. Ihr Statement klingt fast versöhnlich. Die Familie Schweinsteiger-Ivanović solle weiter voller Harmonie weiterbestehen – trotz der aus unbegreiflichen Gründen zerbrochenen Liebe.
Mich machen solche Nachrichten traurig und ratlos. Traurig, weil hinter dem Begriff `Ehe-Aus´ so viel Zerbruch steht für so viele Menschen – der sich weit in die Zukunft hinein auswirkt.
Ratlos bin ich, weil ich nicht verstehe, was das heißen soll: `aus unerfindlichen Gründen zerbrochene Liebe´. Meinen diese jungen Menschen tatsächlich, dass all die länger bestehenden Ehepaare es leichter haben miteinander? Dass das Verliebtsein sich bei den einen eben über Jahrzehnte hält und bei anderen in Luft auflöst – und man nichts dagegen oder dafür tun kann? Es gibt Missbrauch in Ehen, vollkommen klar, Gewalt in vielerlei Form und unerträgliche Zustände. Und manch ein Ehepartner stellt mit Entsetzen fest, dass er ein Monster geheiratet hat. Das scheint in diesem Fall nicht der Fall zu sein: Schließlich wollen sie als Familie voller Harmonie weiterbestehen – wieso tun sie es dann nicht?
Abwechslungsreich und aufschlussarm?
Auf meinem Weg zur Arbeit fahre ich durch einige Wohngebiete. Die Vorgärten sind so verschieden wie die Menschen, die hier wohnen. Beim Anblick einiger muss ich unwillkürlich lächeln und würde sie am liebsten mitnehmen. Andere lösen mentales Kopfschütteln aus: Wer hier wohl wohnt, der sowas schön findet? Es gibt komplett geschotterte Flächen direkt neben fröhlicher Blumenwiese, gefolgt von englischem Rasen oder Rhododendren in allen Größen und Farben. Dazwischen stehen Zäune aus Holz (in den Varianten `regelmäßig gestrichen´ und `vermodert´), kleine oder ausgewachsene Mäuerchen und immer mehr auch der typisch moderne `Schick´ dunkelgrauer Plastikplanen zwischen Stahlstangen – hässlich, aber auf jeden Fall blickdicht.
Während ich hinsichtlich der kleinen Garten-Stückchen anerkennend lächle oder innerlich die Nase rümpfe, frage ich mich, wie unser Vorgarten auf andere wirkt. Er ist uns nicht wichtig und entsprechend kein Hingucker. Vorbei radelnde Menschen könnten sich fragen: Wer hier wohl wohnt, der sowas schön findet?
Vorher – nachher
Ein Todesfall in der Familie, völlig überraschend. Ein Mensch fehlt, die Gedanken gehen immer wieder zu der Lücke. Die nächsten Tage vergehen wie immer, unaufhaltsam, als wäre nichts geschehen. Und doch ist es von jetzt an anders als vorher.