Komplex

„Wer sich vegan ernährt, tut automatisch etwas für das Klima“, lese ich in der Zeitung. „Das stimmt doch gar nicht!“, will ich rufen, denn so einfach ist es nicht. Wo kommen die Sojaprodukte denn her, die Veganer unter anderem anstelle von tierischen Lebensmitteln zu sich nehmen?

Diese Welt ist komplex; wir haben es höchst selten mit einfachen und klaren Ursache-Wirkung-Mechanismen zu tun. `Automatisch´ passiert herzlich wenig. Das merken wir doch spätestens, wenn uns gerade die Menschen so richtig wütend machen, die wir am meisten lieben. Wer in dieser so komplexen Welt an einfache Wenn-Dann-Antworten glaubt, ist entweder ignorant, sehr voreingenommen oder … – ich mag es gar nicht aussprechen.

Passt mir!

Eine meiner Freundinnen ist immer passend angezogen ist und kauft häufig neue Klamotten. Ich dagegen übernehme gern gebrauchte Kleidung und trage diese dann lange weiter. Manchmal bin ich bis auf die Unterwäsche in `geerbt´ unterwegs – und immer passend angezogen.

Momentaufnahme

Viele der Briefe, die mir etwas bedeuten, hebe ich auf. Es fällt mir schwer, etwas wegzuwerfen, womit sich jemand anderes solche Mühe gegeben hat. Dabei lese ich sie nur sehr selten noch einmal und werde dann nicht mehr gleichermaßen berührt von ihrem Inhalt. Wahrscheinlich lassen sich die Momente nicht nacherleben, für die die Briefe geschrieben waren: Persönliche Worte sprechen oft genau hinein in eine bestimmte Lebenssituation – und passen nur zu dieser. Im Augenblick entfalten sie eine besondere Kraft, die im Nachhinein kaum noch zu spüren ist.

Von daher müsste ich Briefe nicht aufheben; sie haben ihre Aufgabe erfüllt, mehr kann ich von ihnen nicht erwarten. Ich tue es trotzdem – zumindest bis zu meinem nächsten Umzug :-).

Kein Automatismus

Ein promovierter Mediziner ist nicht automatisch ein guter Arzt.
Ein Pädagoge kann nicht automatisch gut unterrichten.
Ein studierter Jurist fällt nicht automatisch weise Urteile.
Ein Germanist ist nicht automatisch ein qualifizierter Redner.
Ein brillanter Theologe ist nicht automatisch ein zugewandter Pastor.
Ein begnadeter Fußballer spielt nicht automatisch mannschaftsdienlich.

Bloßes Wissen ist nicht alles; für das wirkliche Leben muss es sich erst in der Praxis bewähren. Zusätzlich zu einem Titel braucht es gesunden Menschenverstand, Gelassenheit, Mut zur Lücke, Erfahrung, Empathie – und eine Portion Demut.

Weglächeln

Meine Freundin ist sehr belastbar: Was sie an Arbeit schafft, bringt mich immer wieder zum Staunen. Weil sie liebt, was sie tun muss, geht sie mit Schwung von einer Aufgabe zur nächsten – als würde sie die Anforderungen gar nicht in Gänze wahrnehmen, sondern weg-lächeln. Mir geht es mit meinem Alltag ähnlich; allerdings habe ich in der Summe deutlich weniger `an der Hacke´ als diese Bäuerin. Wenn wir uns treffen, genieße ich die positive Energie, die von ihr ausgeht. 

Heute Morgen war alles anders. Meine Freundin lächelte nicht und bewegte sich langsam. Vielleicht hatte sie zu wenig geschlafen, vielleicht wird sie krank. Ihre Aussicht auf den heutigen Tag klang dementsprechend eher nach `muss ja´. Auch das kenne ich: Wenn man normalerweise ein großes Pensum schafft, schlägt eine gewisse Antriebsschwäche umso stärker ins Kontor: Plötzlich entpuppt sich die Fülle der Arbeit als die Herausforderung, die sie ist – und jedes Extra als Last. Mir ist an solchen Tagen manchmal sogar das Kochen zu viel; bei meiner Freundin sind es andere Dinge: Heute ließ sich die Euter-Entzündung einer Kuh nicht einfach so weg-lächeln.

Vorgaben

Eine Straße in unserer Nähe wurde zur Fahrradstraße umgewidmet und sehr üppig mit den dabei üblichen Markierungen versehen: Alle 20 Meter sieht man weiße Fahrräder auf der Straße, mindestens zwei oder drei große rote Flächen – auf 200 Meter Länge. Die Markierungen sind erhaben und holperig: JEDER Radfahrer weicht ihnen aus. Bei Nässe und Kälte werden sie außerdem gefährlich rutschig. Mein Mann fährt täglich dort entlang. Kürzlich telefonierte er aus anderem Grund mit einem Verantwortlichen der Stadt und fragte freundlich nach. Ja, er wisse, dass das nicht optimal sei, sagte dieser, der ADFC habe sich auch schon gemeldet. Aber so seien eben die Vorgaben – wie alltagstauglich diese sind stelle sich immer erst durch Probieren heraus.

Meine Freundin hat einen neuen Kuhstall gebaut und musste dafür Ausgleichsflächen anlegen und Lerchen-Fenster im Acker stehenlassen. Lerchen sind Bodenbrüter: Dort, wo der Stall jetzt steht, können logischerweise keine Lerchen mehr brüten. Zwar hätten sie das vorher auch nicht getan – der Stall liegt direkt an einer Straße. Aber das spielt bei den Vorgaben keine Rolle: Die Ausgleichsflächen befinden sich nun ebenfalls direkt an der Straße und die Lerchen-Fenster liegen unweit der Route, die sämtliche Hundebesitzer der Gegend TÄGLICH benutzen. Welche Lerche wäre so doof, hier ihr Nest zu bauen? Gar keine – genau. Die Vorgabe ist da, aber alltagstauglich ist sie nicht.

In einem Artikel über Menschen, die sich um die Erfassung von Flüchtlingen kümmern, lese ich von den Schwierigkeiten, die damit verbunden sind. Abläufe stocken, Software erweist sich als nicht anwendbar – das erzeugt Stress und Ärger bei allen Beteiligten. Die Mitarbeiter in den Behörden werden jedoch nicht gefragt, wie es aus ihrer Sicht besser laufen könnte. Stattdessen macht man sie sogar noch verantwortlich, wenn´s hakt. In dem Artikel wird eine von ihnen zitiert: „Es sind immer die Vorgaben, die den Stress erzeugen, nie die Menschen auf dem Flur.“ Das klingt für mich nicht besonders alltagstauglich.

Vorgaben sind gut, wenn sie sich in der Praxis bewähren und diese bestenfalls erleichtern. Diejenigen, die sie beschließen, haben meist eine ungesunde Distanz zu den real existierenden Umständen `an der Basis´. Es wäre also schlau, die Entscheidungsträger würden sich vorher Rat holen: vornehmlich bei denen, die alltäglich von Vorgaben betroffen sind oder/und sie umsetzen müssen – Fahrradfahrer, Bauern, Mitarbeiter …

Was bleibt, wenn es vorbei ist.

Wir gehen zu der Trauerfeier für einen Nachbarn. Vorher sind wir zu Hause beschäftigt – und hinterher wieder. Die Beerdigung selbst ist eingeschoben, wie ein Ort des Innehaltens: Während wir da sitzen und auf den Redner warten, fühle ich mich wie ausgebremst und genieße es. Dann erinnern uns persönliche und ehrliche Worte an den Toten: Er war ein schwieriger Mensch. Einige Angehörige wirken untröstlich, denn der Tote hatte auch liebevolle Seiten. Angesichts dieser Trauer verlieren seine Ecken und Kanten ein wenig von ihrer Schwere, denke ich. So schnell ist ein (in diesem Fall langes) Leben vorbei; was davon bleibt, wissen die Menschen, die ihm näher standen als ich.

Ich frage mich, wie wohl meine Beerdigung sein wird: Die Ausgestaltung kann mir egal sein, oder ich lege vorher fest, was ich mir wünsche. Wer wird kommen und – viel wichtiger – was wird über mich gesagt? Auf jeden Fall werde ich irgendwann diese Tote sein. Menschen werden ihren geschäftigen Alltag für eine Trauerfeier unterbrechen, sich an mich erinnern, trauern und denken: So schnell ist ein Leben vorbei. Was von mir bleibt, wissen jetzt schon die Menschen, die mir nahestehen.

Beim Arzt

Im Wartezimmer bekomme ich mit, dass eine ältere Dame, die ihren Mann begleitet, weggeschickt wird – wegen des Infektionsgeschehens müssen Begleitpersonen draußen warten. Eine halbe Stunde später bin ich fertig behandelt und gehe. Eine Etage tiefer, im Flur, auf einer Bank sitzt die Frau; im Treppenhaus strahlt nur Kunstlicht von der Decke, es ist kühl. „Ach, Sie sitzen immer noch hier?“, frage ich. Die nächsten zehn, fünfzehn Minuten unterhalten wir uns: Gestern seien sie auch schon hier gewesen – da bekam sie Tropfen und ihr Mann wartete im Flur. Die Tochter wolle man ja auch nicht immer fragen, die habe genug zu tun. Sie spricht mit einem süddeutschen Zungenschlag, ich frage nach. Ja, von der Schweizer Grenze komme sie ursprünglich, aber der Mann sei Berufssoldat gewesen und ständig umgezogen. Hier seien sie dann hängengeblieben – zum Glück! Die eine Tochter sei seit einer Gehirnblutung vor 20 Jahren schwer behindert, da sei es gut, dass alle in der Nähe wohnten.

Irgendwann kommt eine Arzthelferin und ruft nach der `Begleiterin für Herrn XY´. „Das bin ich!“, sagt sie erfreut und verabschiedet sich von mir: „Danke für das Gespräch, da ist mir die Zeit jetzt ganz schnell vergangen!“

80 Jahre ist diese Frau alt, ihr Mann ist 84. Sie sind seit über 50 Jahren verheiratet, jetzt im Alter nicht mehr so flexibel und noch mehr aufeinander angewiesen als früher. Und während eines Arztbesuches ihres Mannes muss diese Frau allein in einem ungemütlichen Flur auf ihn warten (mit FFP2-Maske und sehr wahrscheinlich geimpft), weil das Infektionsgeschehen so ist, wie es ist. Ich fasse es nicht.

Was ich übersehe und was nicht …

Ich finde im Supermarkt nicht den 3:1-Gelierzucker und frage eine Verkäuferin, ob dieser gerade nicht lieferbar ist. Sie verneint und kommt mit zum Regal. Da steht er, eine Etage unter der mit dem 2:1-Gelierzucker – nur von einer anderen Firma. Obwohl ich intensiv auf der Suche danach war, hatte ich ihn übersehen: Ich war fixiert auf die falsche Sorte.

Anschließend fahre ich mit dem Auto nach Hause und nehme alles mögliche wahr: Fußgänger an der Ampel, dass die Post noch geschlossen ist, die Straße mitsamt dem Verkehr, den blauen Himmel … Es huscht alles an mir vorbei; ich kann kaum etwas fixieren: Dennoch übersehe ich nichts Wichtiges.

Kein Verlust

Der Buchsbaum-Zünsler ist wieder da: Mit frischer Energie widmet er sich unseren Buchsbäumen – zwei Wochen nach einer Spritzbehandlung sind die Raupen zwar noch klein, aber quicklebendig. Außerdem sehen die Pflanzen nicht gut aus: Will ich mir die kahl gefressenen Zweige wirklich ein weiteres Jahr anschauen? Ich zögere; aber die Aussicht auf monatliche Spritz-Aktionen überzeugt mich. Kurz entschlossen entscheide ich, nur um die Buchs-Hecke zu kämpfen. Alle freistehenden Buchsbäume schneide ich ab, häcksele sie und stopfe das Zeug in Säcke. Um die Wurzeln kann sich gelegentlich mein Mann kümmern. Interessanterweise sieht der Garten hinterher überhaupt nicht leer aus – im Gegenteil: Es ist wirklich auch sehr schön ohne (halb aufgefressene und dilettantisch zurückgestutzte) Buchsbäume.