Nicht verantwortlich

Durch den Frühjahrs-Lockdown 2020 weiß ich, dass sich echte Schule nicht durch Home Schooling ersetzen lässt. Unsere Kinder gingen nach den Sommerferien in die Schule zurück – und hatten Defizite, die sich nur mühsam aufholen ließen. Kurz vor Weihnachten waren sie wieder bei „normal und wie vor Corona“ angelangt. Nun werden die Kinder noch mindestens den ganzen Januar zu Hause bleiben. Wieder ist Home Schooling angesagt.

Unsere Voraussetzungen sind vergleichsweise gut: Die Lehrer bemühen sich, eine digitale Ausstattung ist vorhanden. Darüber hinaus bin ich zu Hause und achte darauf, dass die Kinder tatsächlich etwas für die Schule TUN. Am Küchentisch geht gemeinsames Lernen; in den übrigen Zimmern kann arbeiten, wer allein sein möchte. Der Garten (oder die Walachei) vor der Tür ermöglicht Bewegung an der frischen Luft – und wir nutzen das auch.

Dennoch können wir kein Unterrichtsgespräch ersetzen; die Familie ist nicht dasselbe wie die Klassengemeinschaft; ich bin kein Pädagoge. Daher gehe ich entspannt und mit einer realistischen Erwartung in die nächsten Wochen: Die Kinder werden irgendwann trotz Home Schoolings mit schulischen Defiziten wieder in die Schule gehen – und verantwortlich dafür sind weder Lehrer, Schüler noch Eltern. (Und die Lösung heißt auch nicht „mehr Digitalisierung“!)

Pralinen und Kröten

„Denn ein Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.“
Prediger 3, 13

In einer Mail berichtet ein Freund traurig von einer alten Bekannten: Nach 20 Jahren Ehe verlässt sie Mann und zwei Kinder. Sie wolle endlich ihre Bedürfnisse ausleben, habe sie ihm gesagt, nach all der Zeit als Hausfrau und Mutter und Hintanstellen der eigenen Träume. Ich bin erschüttert, obwohl ich ahne, welche Gedanken sie bewegen: Es ist die Frage, wie sehr man die Schuld für die eigenen Entscheidungen dann doch bei den anderen sucht. Ich kann das auch gut, aber es ist gar nicht gut. Wir treffen unsere Entscheidungen selbst, normalerweise zwingt uns keiner in diesem Land. Wenn wir unzufrieden werden (oder im Nachhinein sind), müssen wir bedenken, was die Alternative gewesen wäre und ob wir mit deren Folgen besser hätten leben können: Ich als Vollzeit-Mutter kann mich fragen, warum ich mich nur um die Kinder gekümmert habe und noch kümmere. Aber ebenso muss ich mich auch fragen, ob ich sie zugunsten einer eigenen Karriere gern in fremde Hände gegeben hätte.

Wir bekommen ein Leben meist nur als Paket, aber wir hätten gern nur die Pralinen: erfolgreich im Job, sich in die Kinder investieren und sie prägen, tolle Ehe, interessante Hobbys, intensive Freundschaften. Doch neben den Pralinen hocken die Kröten: Irgendetwas bleibt (zumindest phasenweise) auf der Strecke, irgendeine Sehnsucht in uns ungestillt. Es ist nicht immer gleich einfach, Verluste zu akzeptieren und gute Prioritäten zu setzen und dauerhaft `Ja´ zu sagen zu dem Lebensstil, für den man sich entschieden hat – mit allen Konsequenzen.

Der Teufel kennt unsere Schwachstellen und Sehnsüchte, vor allem die nicht befriedigten. Er macht uns gern darauf aufmerksam: Und dann sehen wir klar, was uns fehlt, und nur im Nebel, welche Schätze wir haben. Ich kenne das gut. Aber wir merken oft eine Weile nicht, dass dies nur eine Sicht der Dinge ist… Und dann scheint das Ausbrechen die einzige oder zumindest eine gute Alternative zu sein – weil das bisher Gelebte scheinbar nicht mehr auszuhalten ist. Aber dabei geht ganz viel kaputt und werden die Verluste noch viel höher sein. Nur überblicken wir das in dem Moment nicht oder wollen es gar nicht wissen.

„Der Teufel geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge.“
1. Petrus 5, 8

Duschbad

„Hallo Mama, ich habe dich sehr lieb, auch wenn dich das manchmal ärgert, wenn ich irgendetwas falsch mache. Entschuldigung!“, schreibt mir mein elfjähriger Sohn auf einen Zettel. Ich bin beschämt und nehme meinen Jüngsten in den Arm. Er wollte mir helfen: „Mama, ich fülle die Seife im Bad nach, die ist alle.“ Jaja, denke ich. Aufmerksam werde ich erst, als er hinterher sagt, die Nachfüll-Seife im Keller sei jetzt aufgebraucht. Ich weiß ziemlich gut über meine Bestände Bescheid und ahne, was er tatsächlich aufgebraucht hat. Ein Blick in den Müll bestätigt: Wir werden uns in der nächsten Zeit mit meinem Duschbad die Hände waschen.

Ärgerlich halte ich meinem Sohn die leere Packung vor die Nase: „Lies mal, was hier steht. Und jetzt geh in den Keller und lies, was dort auf den Beuteln steht.“ Betretenes Schweigen – er versteht: Ich ärgere mich über verbrauchtes Duschbad, anstatt mich über seine Hilfe zu freuen. Langsam kommen die Tränen – und ich verstehe: Mein sensibler Sohn wollte etwas Gutes tun, hat dafür aber keinen Dank, sondern Ärger geerntet.

Anschließend ist er traurig und entschuldigt sich für seinen „Fehler“. Auch ich bin anschließend traurig und entschuldige mich für mein Fehlverhalten. Es klingt nur, als wäre es dasselbe: Mein Sohn hat nicht alles richtig gemacht und hatte dabei mich im Blick. Ich habe nicht alles richtig gemacht und hatte dabei ebenfalls mich im Blick. 🙁 Falls mein Sohn nächstes Mal wieder freundlich helfen will, möchte ich vor allem ihn und sein Bemühen im Blick haben und weniger das Duschbad und mich.

Ärzte

Einige Ärzte befreien Menschen per Attest von der Maskenpflicht, so dass diese dann nicht maskiert herumlaufen – und vielleicht gegen die Corona-Maßnahmen protestieren. Andere Ärzte befreien Kinder per Attest von der Schulpflicht – weil deren Eltern aus Angst vor dem Corona-Virus lieber auf Heim-Unterricht umstellen.

Ich kann über beide Ärzte-Gruppen die Köpfe schütteln oder auch nur über eine von ihnen. Meine Reaktion hat nichts mit dem medizinischen Sachverstand der Ärzte zu tun: Dieser spielt für ihre Handlungsweise eine untergeordnete Rolle, außerdem kann ich ihn nicht beurteilen. Was ich von den jeweiligen Medizinern und ihrem Tun halte, hat viel mehr etwas mit MEINER Einschätzung der Lage zu tun und mit dem, was ICH für richtig, angemessen und gut halte. Den meisten Normalo-Menschen um mich herum unterstelle ich eine ähnlich geartete „vorgefertigte Meinung“, die sich aus allem möglichen speist. Uns stehen dieselben Informationen zur Verfügung; aber wir ziehen unterschiedliche Schlüsse. Die Grenze zwischen „klar richtig“ und „eindeutig falsch“ ist fließend. Unser aller Wissen und Überblick sind begrenzt. Das geht Wissenschaftlern ebenso wie Nicht-Wissenschaftlern. Würden wir das zugeben, hätte das Virus weniger Chancen, unsere Gesellschaft zu spalten – selbst wenn es weiterhin solche und solche Ärzte gibt.

Vorbehalte

„Ist er nicht der Zimmermann, Marias Sohn, und der Bruder des Jakobus und Joses und Judas und Simon? Sind nicht auch seine Schwestern hier bei uns? Und sie ärgerten sich an ihm.“
Markus 6, 3

Jesus kommt in seine Heimat zurück – und merkt, dass er dort nicht viel ausrichten kann: „`Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterland und bei seinen Verwandten und in seinem Hause.´ Und er konnte dort nicht eine einzige Tat tun, außer dass er wenigen Kranken die Hände auflegte und sie heilte.“ (Markus 6, 4)

Für Jesus galten dieselben Spielregeln, denen wir heute unterworfen sind: Gegen die Vorbehalte von Menschen, gegen ihr Schubladendenken und ihr festlegendes „Ich weiß, wer du bist und wie du tickst“ können wir wenig tun. Sind wir einmal „eingetütet“, bleiben wir dieselben – egal, wie sehr wir uns tatsächlich verändern. Auf den ersten Blick ist das wirklich schade – für uns: Wir werden nicht umfänglich wahrgenommen und vielleicht sogar völlig falsch verstanden. Auf den zweiten Blick ist es wirklich schade – für den anderen: Sein „Wissen“ verhindert, dass er staunt über uns oder sich reibt an uns, in jedem Fall aber inspiriert wird. Insgesamt ist es schade – für beide: Die Begegnung bleibt oberflächlich, nicht spannend; die Beziehung entwickelt sich nicht weiter.

„They tripped over what little they knew about him and fell, sprawling. And they never got any further.“ Mark 6, 3 ( The Message) „Sie stolperten über das Wenige, das sie von ihm wussten, fielen und blieben ausgestreckt liegen. Und dann kamen sie nicht weiter.“ (frei übersetzt)

(Nicht) üblich?

Es ist Neujahr, ich besuche meine Eltern und gehe mit meiner Mutter spazieren. Die wenigen, die außer uns noch unterwegs sind, reagieren überrascht auf mein „Frohes Neues Jahr!“, lächeln aber und antworten freundlich. „Das ist hier nicht üblich“, raunt mir meine Mutter nach der dritten Begegnung zu. Ehrlich gesagt ist mir das egal; ich wünsche trotzdem jedem, den ich am 1. Januar treffe, ein gutes, frohes oder auch gesegnetes Neues Jahr.

Einen Tag später bin ich wieder zu Hause und gehe eine Runde laufen. Jeder, der mir begegnet, ruft mir (wohlgemerkt am 2. Januar!) ein „Frohes Neues Jahr“ zu – ob ich denjenigen vom Sehen kenne oder nicht, spielt keine Rolle. Bei uns ist das offensichtlich eher üblich.

Aber hat „üblich“ überhaupt mit dem Ort zu tun und nicht vielmehr mit den dort lebenden Menschen? Ich schätze, wie es in den Wald hinein schallt, so schallt es auch heraus: Wird mein Gruß erwidert, werde ich damit weitermachen – und vielleicht andere anstecken. Ernte ich für mein „Frohes Neues Jahr“ hingegen öfter ein stumpfes Schweigen, gewöhne ich mir wahrscheinlich mein Grüßen wieder ab. Mein Umfeld färbt auf mich ab – und ich auf mein Umfeld. Was hier oder da üblich ist, hat auch ein wenig mit mir selbst zu tun.