„Richtig“

Ich treffe eine Frau aus der Nachbarschaft mit ihrem kleinem Hund. Der Hund ist jung, ungestüm und noch nicht gut erzogen; kurzerhand nimmt sie ihn auf den Arm und setzt ihn in ihren Fahrradkorb. Früher habe sie immer große Hunde gehabt, erzählt sie mir. Ein „richtiger Hund“ habe für sie bei 50 Zentimeter Schulterhöhe angefangen. Heute ist sie froh, dass es auch kleinere Exemplare gibt; ein großer Hund wäre nicht mehr „richtig“ für sie. Die Sicht auf Dinge ändert sich – im Verlauf weniger Jahre: Was heute „richtig“ ist, wird nicht über Nacht „falsch“, kann aber übermorgen unpraktisch sein oder einfach nicht mehr in mein Leben passen.

Corona aus dem Fokus schubsen

Das Gebot der Stunde lautet: Abstand, Hygiene, zu Hause bleiben… Vom Fokus her klingt das nach: „Hauptsache, wir vermeiden die Ansteckung mit dem Corona-Virus – und möglichst den Kontakt zu allen und allem, was uns lieb und teuer ist“. Mir ist das zu einseitig – und zu negativ. Als gäbe es nichts, was wir sonst tun können. Dabei ist klar: Bewegung tut uns gut und Licht auch. Also raus mit uns – meinetwegen allein – und spazieren gehen, laufen oder Rad fahren. Gesünder zu essen, ist eine ebenso gute wie umsetzbare Idee. An Obst und Gemüse mangelt es nicht, und Zeit zum Kochen haben die meisten jetzt auch. Damit stärken wir unseren Körper und das Immunsystem; und vielleicht haben wir auch Spaß daran.

Denn vor allem die Seele braucht gute Nahrung: Zu viele Corona-Nachrichten ermüden, ängstigen, verunsichern uns und engen die Perspektive ein. Also hören wir anstelle der Nachrichten Gute-Laune-Musik, die uns beschwingt. Wer`s mag, singt unter der Dusche und tanzt im Wohnzimmer. Die Stilleren können mittels guter Bücher abtauchen in Corona-freie Geschichten – egal ob sie Krimis mögen, Biographien, Sachbücher oder Romane. Und wer mit offenen Sinnen unterwegs ist, findet mehr Schönes als Angst-Machendes: geschmackvolle Weihnachtsdeko in einem Vorgarten, die rote Morgensonne – und das Wissen, dass in einer Woche die Tage wieder länger werden, das Faszinierende an einer Formation Kraniche, ein Schwanenpärchen (mit ihren leicht quietschenden Fluggeräuschen) oder das wohlige Gefühl, aus dem Nieselregen in ein warmes Haus zu kommen. Wem all das nicht reicht: Freundliche Worte wirken Wunder – nicht nur, wenn man sie hört, sondern auch wenn man sie ausspricht …

Allein

Heute las ich in einem Artikel über Singles in der gegenwärtigen Krise die Sätze einer Frau Mitte zwanzig: „Ich kann ihn nicht mehr hören, den ewigen Rat: Ihr seid die digitale Generation, trefft euch online. Jahrelang sind wir davor gewarnt worden, dass zu viel Virtualität das Sozialleben aushöhlt. Jetzt soll sie das Allheilmittel sein. Dabei brauchen auch wir die Wärme von Menschen, die neben uns sitzen, uns umarmen, mit uns tanzen.“

Ich sehe das genau wie sie: Die digitale Verbindung von Menschen kann immer nur Ergänzung sein und ist vielleicht manchmal sehr praktisch, ein Ersatz für echtes Miteinander ist sie nicht. Nur analog funktionieren Nähe, Wärme, Vertrauen und wortloses Verstehen – aber genau das gehört zum Menschsein dazu. Allein Lebende müssen darauf schon seit Wochen weitgehend verzichten und kommen damit unterschiedlich gut zurecht. Ob „Trefft euch online“ ein guter Rat ist oder Merkels Bemerkung tröstet, dass es bis März doch überschaubar „kurz“ ist – ich bezweifle es. Singles können noch so gut digital vernetzt sein: Sie sind zur Zeit trotzdem viel mehr allein, als Menschen gut tut.

Kein Termin – ein Genuss!

Mein Mann fragt mich am Morgen, ob ich heute einen Termin habe. Bis auf Physiotherapie wegen meiner Verspannungen im Rücken fällt mir nichts ein. „Enjoy“, raunt er mir zu, bevor er das Haus verlässt; genießen soll ich meinen Vormittag.

Das tue ich: Nach dem morgendlichen „Klar-Schiff-Machen“ fällt mir ein, dass ich für mein Chili con carne noch Bohnen brauche. Chili ohne Bohnen ist wie Apfelkuchen ohne Apfel, geht also nicht. Auf dem Weg zur Physiotherapie halte ich deswegen am Supermarkt an – und merke zu Hause, dass ich keinen Knoblauch mehr habe. Diesmal reicht der Gang zur Nachbarin. Zwischendurch nehme ich die Wäsche von gestern ab und stelle eine neue Maschine an. Beim Aufhängen zähle ich 23 Unterhosen und 13 Paar Socken. Einen Text korrigiere ich noch vor dem Mittagessen. Während das Chili köchelt, packe ich ein Tütchen mit der besten Schokolade für die Postbotin: Sie hat zur Zeit sehr lange Tage, klingelt aber auch um fünf noch freundlich an unserer Tür. Den Staubsauger stelle ich für später in den Weg – und die Bügelwäsche daneben.

Ich könnte noch Kekse backen, denn unsere selbst gebackenen sind schon wieder alle. Das muss und kann bis morgen warten. Mit den Weihnachtsgeschenken in Foto-Form bin ich heute nicht weitergekommen; aber auch dafür fehlt mir so kurz vor dem Mittagessen die Ruhe. Mein Vormittag war auch ohne Termin voll – ich habe ihn trotzdem genossen.

Dieselbe Sprache?

Vor einiger Zeit lasen wir einen Liedtext von Paul Gerhardt, in dem es hieß:

„Ich will von deiner Lieblichkeit bei Nacht und Tage singen, mich selbst auch dir nach Möglichkeit zum Freudenopfer bringen. Mein Bach des Lebens soll sich dir und deinem Namen für und für in Dankbarkeit ergießen; und was du mir zugut getan, das will ich stets, so tief ich kann, in mein Gedächtnis schließen.“

Die verwendete Sprache ist zwar Deutsch, aber mehrere hundert Jahre alt und dadurch schwer verständlich und sperrig: Es ist dieselbe Sprache und doch nicht dieselbe Sprache. Wenn ich mich auf solche Liedtexte einlasse und auf die Wahrheit dahinter, kann ich sie mögen. Leichter ist es, mich von der „alten Sprache“ abschrecken zu lassen und die Wahrheit der Worte gar nicht zu hören.

Ein neueres Lied von Albert Frey bringt etwas ähnliches zum Ausdruck, hört sich aber ganz anders an:

„Jeden Tag ein Stückchen sterben, loszulassen, was mich hält. Vieles muss noch anders werden, bis es passt in Gottes Welt. Manche Träume muss ich lassen, Wünsche bleiben unerfüllt. Mir bleibt nichts als zu vertrauen, dass du meine Sehnsucht stillst. Jesus, nimm zu in meinem Leben; Jesus, mein Herz will ich dir geben. Du sollst wachsen, und ich muss kleiner werden; Jesus, nimm du in mir zu.“

Bei diesem Text kann es noch immer passieren, dass ich mich ihm von vornherein verschließe. Das hat dann aber nichts mit dem veralteten Deutsch zu tun, sondern mit der fehlenden Überzeugung, dass Gott und Jesus relevant sind für unser Leben.

Nicht meine Weisheit

„Die Weisheit aber von oben her ist zuerst lauter, dann friedfertig, gütig, lässt sich etwas sagen, ist reich an Barmherzigkeit und guten Früchten, unparteiisch, ohne Heuchelei.“
Jakobus 3, 18

Unparteiisch kann ich nicht. Das ist schade, aber es ist die Wahrheit. Bekannte von mir streiten sich – sehr unschön. Aus meiner Sicht ist ziemlich klar, wer von beiden sich dabei fair verhält und wer nicht. Ich halte das nur schwer aus; es macht mich wütend – obwohl ich selbst gar nicht betroffen bin. „Urteile nie über einen anderen, bevor du nicht einen Mond lang in seinen Mokassins gelaufen bist“, heißt es bei den Indianern in Nordamerika. Das fällt mir schwer. Dabei stimmt es: Es gibt immer mehrere Sichtweisen; Schuld ist nie eindimensional und leicht zu benennen.

Vielleicht liegt es daran, dass mein Denken nicht zu trennen ist von meinen Emotionen:
Ich weiß im Kopf: Es gibt nicht nur eine Realität, jeder hat Gründe für sein Verhalten. Es gibt selten nur schwarz-weiß.
Ich spüre im Bauch: Da wird jemand verletzt, und das macht mich wütend.
Aber fast nie hat nur einer Schuld an einem Streit.

Ich sollte gütig sein, mir etwas sagen lassen (beiden zuhören), unparteiisch und barmherzig vermitteln und den Frieden suchen. Leider bin ich weit entfernt von dieser „Weisheit von oben“. Ich muss sie mir von Gott schenken lassen.

Leichte Vorstellung, schwere Realität

Stille ist wie ein leerer Raum, nach dem wir uns sehnen, wenn wir beschäftigt sind in unserer lauten Welt. Wenn wir die Möglichkeit haben, zur Ruhe zu kommen, dauert das erst eine Weile – und wird dann schwierig: Wir sind es nicht gewohnt, allein zu sein und still. Dieser Zustand kann sich bedrohlich anfühlen, weil uns die Orientierung fehlt. Also beginnen wir, die Stille zu füllen mit etwas, woran wir uns halten und was wir kontrollieren können: Worte und Gedanken – und noch einiges mehr.

Es ist nicht leicht, still zu werden, und noch schwerer, still zu bleiben – jedenfalls für länger als eine Minute. Einfacher ist es, in unserer lauten Welt beschäftigt zu sein – und uns nach einem leeren Raum voller Stille zu sehnen.

„Machbar“ ist nicht alles

Maschinen übernehmen Jobs, weil Maschinen manche Arbeiten gut erledigen können. Dieser Vorgang spart das Geld der bezahlten (menschlichen) Arbeitskraft und ist besonders bei allseits unbeliebten Aufgaben sicherlich sinnvoll und hilfreich. Manches kann eine Maschine aber nicht – und wird es auch nie können – empathisch reagieren und mit sich reden lassen. Daher darf für den Einsatz von Maschinen anstelle eines Menschen nicht das einzige Kriterium sein: „Ist das technisch machbar?“, sondern: „Ist das auch gut?“ Gut gehört ausgiebig definiert, von allen möglichen Seiten beleuchtet und dann noch immer abgewogen. Ich möchte nicht entscheiden müssen, was lieber eine Maschine macht und was lieber ein Mensch; aber ich bin sicher, dass „Machbarkeit“ nicht ausreicht, diese Entscheidung zu treffen.

Unveränderlich

„In jedes Menschen Charakter sitzt etwas, das sich nicht brechen lässt – das Knochengebäude des Charakters; und dieses ändern wollen heißt immer, ein Schaf das Apportieren lehren.“
Georg Christoph Lichtenberg

Wie recht hat er, denke ich, wenn ich Menschen beobachte und auch mich selbst: Über lange Zeiträume hinweg verändern wir uns – kaum. Ein introvertierter Mensch wird weder plötzlich noch durch langes Üben einer, der die Bühne liebt; ein gesprächiger verstummt nicht mit dem Alter. Den Zögernden unter uns fällt es schwer, spontan zu entscheiden; die Helfer halten sich erst zurück, wenn sie gar nicht mehr können. In einem halb leeren Glas ein halb volles zu entdecken – das ist eine Fähigkeit, die den Pessimisten nicht vergönnt ist. Solche Eigenschaften gehören zu uns, sie machen uns aus. Und nur sehr begrenzt lassen sie sich durch eigene Kraft ins Gegenteil verkehren.

Ich selbst habe leicht ein schlechtes Gewissen, wenn ich die Erwartungen anderer enttäusche; eine Lüge ist für mich kein Kavaliersdelikt; und in meinem Gesicht sieht man schnell, wie es meinem Innenleben geht – heute mit 50 Jahren ebenso wie mit 25. Das mit dem Lügen ist gut, das mit dem schlechten Gewissen nicht; aber einfach abschütteln kann ich weder das eine noch das andere.