Vom Utensil zum Accessoire

Brillen waren ursprünglich Utensilien – benötigte Hilfsmittel – für den Alltag einer Person mit Sehproblemen. Meist (oder teilweise?) sind sie das noch immer; aber zusätzlich sind Brillen mittlerweile Accessoires – modische und dekorative Zubehörteile.

Ich frage mich, welche anderen (vielleicht temporär nötigen) Hilfsmittel eine ebensolche Entwicklung durchmachen – und wie man diese gegebenenfalls stoppen könnte: Noch ist der Mundschutz ein Utensil; ich hoffe, er wird nicht zum Accessoire.

Gefiederte Freunde

Die „gefiederten Freunde“ meines Mannes haben Fell und hoppeln. Sie werden regelmäßig von ihm mit frisch ausgestochenem Löwenzahn versorgt – und gehören eigentlich unserer Tochter. Meine „gefiederten Freunde“ sind Teile eines gerade umgepflanzten Bodendeckers, die ich möglichst oft wässere, damit sie angehen.

Wir sind Grzimek-geschädigt: „Gefiederte Freunde“ haben wir von ihm, auch wenn ich nicht weiß, wen genau er damit meinte. Bei uns steht die Phrase für alles, was einem besonders – gern auch ironisch – am Herzen liegt und worum man sich in dieser Lebensphase fürsorglich kümmert.

Bleiben Sie Gesund!

In einer Fleischerei las ich kürzlich die freundliche Erklärung, warum die Mitarbeiter keinen Mundschutz tragen würden und dass aber trotzdem auf höchste Hygienestandards und Abstandsregeln geachtet würde. Am Ende stand da „Bleiben Sie Gesund!“, woran ich gedanklich hängenblieb: Zum einen bin ich noch immer unsicher, ob das unser erklärtes Ziel sein sollte. Zum anderen fällt mir natürlich sofort der – sagen wir – nachlässige Umgang mit der üblichen Groß- und Kleinschreibung auf.

Zu guter Letzt denke ich an meine Nichte. Sie wies mich darauf hin, dass es mittlerweile schon die Abkürzungen „bg“ für „bleib gesund“ und „bSg“ für „bleiben Sie gesund“ geben soll. Sie sagte, sie würde „bg“ immer noch als „bis gleich“ verstehen und sei jetzt etwas verwirrt, was sich wie langfristig (und bei wem) durchsetzen wird. Mich irritiert – auch hier – die inkonsequente Groß- beziehungsweise Kleinschreibung, die sich durch sämtliche Kurznachrichten und die dazugehörigen Abkürzungen zieht. Aber selbst ich sehe ein, dass ein „BSg!“ eben gerade wieder kompliziert und genau das ist, was umgangen werden soll.

Ganz abgesehen von meinem Rechtschreibtick verspüre ich ein inneres Widerstreben, aus der derzeitigen Krise eine quasi offizielle Abkürzung mitzunehmen – so als wäre „Bleiben Sie gesund“ ein schönes Erbe, das uns vom Corona-Virus bleibt. Und überhaupt – ist BSG nicht schon vergeben?

Google „weiß“: BSG steht für Bundessozialgericht. Wusste ich`s doch! Nicht bekannt waren mir jedoch die vielen anderen Bedeutungen wie Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit, Bahnschutzgesellschaft, Behindertensportgemeinschaft, Besonderes Schutzgebiet, Berliner Schachgesellschaft, Ball- beziehungsweise Betriebssportgemeinschaft und nicht zuletzt Battlestar Galactica – eine Fernsehserie.

Natürlich ist diese Liste nicht vollzählig, es gibt noch viel mehr, was sich hinter BSG verbergen kann. Wenn man auf Groß- und Kleinschreibung keinen Wert legt, kann sich „Bleiben Sie gesund“ also nahtlos einreihen. Wie „bSg“ in Zukunft verstanden wird, bleibt abzuwarten – oder jedem selbst überlassen.

The art of adjustment

As a mother you start with a little baby who is totally dependent on you – in every aspect of life. You feed and clean the little person, you talk to your daughter or son, you teach them all they need to know by example and encouragement: eating, crawling, sitting up, walking and later talking, riding a bike, how to be polite and grateful, how to speak up for oneself, and when and how to obey.

Gradually the kids grow older and gain more independence from you: the first steps without a stabilizing hand, finding their way alone for the first time, decisions without motherly advice.

There will be a day when the son or daughter will not be dependent on you anymore – financially or otherwise. The emotional bond might be the strongest that there is, and the most lasting, but there are no guarantees that it will endure either.

The mother`s responsibility shifts from 100 per cent to next to nothing – all within an extremely short period of perhaps 20 to 25 years. In western Europe. In other parts of the world it takes only 15 years to ‘get rid of’ the children completely.

For a healthy and averagely able child it may be a learning process, and one with lots of excitement and some anxiety, insecurities, and the courage to fail. For mothers, it’s the art of adjustment in a learning-by-doing-process.

Der Reiher

„Jesus aber sah sie an und sprach zu ihnen: `Bei den Menschen ist`s unmöglich; aber bei Gott sind alle Dinge möglich.´“ 
Matthäus 19, 26

Meine Spazier-Runde führt mich an einem kleinen Tümpel vorbei. Oft sitzen dort Vögel, die feuchte Wiesen mögen – Reiher, Störche, Gänse. An den vergangenen Tagen sah ich morgens häufig einen Reiher. Aus verschiedenen Gründen hätte ich ihn gern fotografiert, hatte jedoch weder Kamera noch Handy dabei. Gestern nahm ich meinen Fotoapparat mit und betete auf dem Weg: „Herr, ich will kein Flies auslegen wie Gideon – so wichtig ist es nicht. Aber es wäre doch schön, der Reiher säße heute wieder dort. … Du kannst das machen, es ist dir leicht möglich.“

Gespannt ging ich weiter, aber doch auch skeptisch. Zu oft schon ist es mir so gegangen, dass sich Wunder nicht auf den ersten Blick erspähen lassen. Oft habe ich mich im Vertrauen geübt, obwohl ich nichts gesehen habe – oder nur einen Hauch: Gott hat schon geheilt, aber nicht über Nacht, sondern durch ein Jahr Chemotherapie und großes Elend. Gott hat schon geholfen, aber nicht direkt, sondern mehr durch die Hintertür. Gott steckt hinter jedem Umweg, hinter jedem „im Nachhinein war es gut so“, ich weiß; aber dieses ganz Spektakuläre, von dem die Bibel spricht? Mir ist es noch nicht widerfahren.

Diesmal also hoffte ich in dieser unspektakulären und unwichtigen Sache auf ein Zeichen – beziehungsweise auf den Reiher. Dort, wo er sonst auch häufig hockt, wollte ich ihm gern „begegnen“. Was soll ich sagen: Er hockte nicht dort. Leicht enttäuscht, aber innerlich bestätigt machte ich ein Foto von der leeren Wiese mit dem Tümpel. Ich hatte es nicht anders erwartet; Gott lässt sich nicht manipulieren. Ich weiß, dass Gott alles kann, auch wenn er es nicht immer tut. Die Bibel nennt das Vertrauen auf das, was nicht ist:

„Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.“
Hebräer 11, 1

Einige Minuten später sah ich aus dem Augenwinkel etwas kurz aufflattern und wieder landen – etwa zweihundert Meter entfernt. Da war er, der Reiher, kaum zu erspähen: Gut getarnt ist so ein Reiher mit seinem langen silbrig schimmernden Hals inmitten der Ufergewächse, die ebenso schimmern. Hatte er sich – oder Gott? – nur in der Wiese geirrt? Würde er vielleicht später noch kommen? Ich weiß es nicht, so lange blieb ich nicht stehen.

Gott hat sich nicht in der Wiese geirrt, so etwas passiert Gott nicht. Der Reiher saß einfach auf einer anderen. Ich sollte das nicht überbewerten, ich weiß. Ich bin dazu aufgefordert zu vertrauen, auch wenn ich nichts sehe. Immer und immer wieder übe ich mich darin. Eine kleine unverdiente Überraschung wäre aber doch schön gewesen.

Nicht einfach nur schön

Bei einem Spaziergang Anfang letzter Woche kam ich vorbei an einem frisch gemähten Feld. Für mich war der Anblick der geraden, gleichmäßigen Reihen Grünschnitt einfach nur schön. Für den Bauern ist er dazu sicherlich noch sehr befriedigend: Gemähtes Grünland ist auf dem langen Weg von der Aussaat bis hin zum Endergebnis „Futter im Stall“ ein relativ später Zwischenschritt. Es fehlt dann nur noch der Transport ins Silo, wo das Grünzeug liegen und gären darf, bis es als Silage auf dem Esstisch der Schwarzbunten landet. Einen Tag später war genau dieser Abtransport bereits erfolgt – so weit das Auge reichte nur kurze Stoppeln. Am Ende der Woche war der Boden gepflügt und damit vorbereitet für die nächste Frucht. Jedesmal präsentierte sich das Feld anders „schön“ – für mich. Für den Bauern kommt jedesmal noch der Aspekt „geschafft“ dazu. In welchem Beruf gibt es dermaßen viele Anlässe zur Zufriedenheit?

Handschlag

Es gibt in Deutschland die schöne Angewohnheit, Menschen zum Gruß die Hand zu geben. In meiner Jugend war es noch üblicher als heute: Wegen der möglichen Übertragung von Infektionskrankheiten steht das Händeschütteln schon seit einigen Jahren auf der Abschussliste. Ohne Rücksicht auf potentielle Ansteckungsgefahren bleibt der Handschlag für mich ein erhaltenswertes Kulturgut – als eine stilvolle und persönliche Form der Begrüßung. Unsere Kinder haben wir dahingehend geprägt: An uns sollte es nicht liegen, dass das Händeschütteln ausstirbt.

Dann kam Corona: Von heute auf morgen mussten wir uns alle abgewöhnen, einander zum Gruß die Hand zu reichen; stattdessen halten wir mindestens zwei Armlängen Abstand. Es bleibt daher abzuwarten, ob der Handschlag 2020 überlebt. Covid-19 könnte die jüngste Infektionskrankheit sein, die diesem Kulturgut den Todesstoß versetzt.

(Mutter-)Tag

Aus Gewohnheit wache ich um halb sieben auf und wälze mich eine halbe Stunde später aus dem Bett. Das Haus ist ruhig, alle anderen schlafen noch. Als mein Mann aufsteht, um zu frühstücken und dann zu seiner Mutter zu fahren, schickt er mich aus der Küche: „Du könntest eigentlich eine Weile spazieren gehen. Den Tisch musst du nicht decken. Ich bin dann weg, wenn du wiederkommst.“

Ich gehe bei einer Freundin vorbei, der ich als Überraschung einen Blumengruß mit Karte von ihrer weit entfernt wohnenden Tochter vor die Tür stelle. Auf meiner üblichen Runde treffe ich eine ältere Dame, für die ich einkaufe, weil ihre Tochter ebenfalls weit weg wohnt und nicht oft vorbeischauen kann. Wir wünschen uns gegenseitig einen schönen (Mutter-)Tag.

Um zehn lande ich wieder zu Hause, wo mich die Kinder beglückwünschen und ungeduldig zum Frühstück bitten – sie sind seit einer halben Stunde damit fertig, alles vorzubereiten. Es gibt das, was es sonntags immer gibt, dazu noch jede Menge Obst, denn: Noch immer esse ich Zucker nur „verpackt“ in Obst oder Milch.

Nach unserem kleinen „Familiengottesdienst“ auf dem Sofa gehen ein Sohn und ich laufen. Der weitere Sonntag plätschert eher ruhig und entspannt vor sich hin: Ich rede mit der einen oder anderen Tochter, lese meinem Jüngsten was vor oder sitze allein auf der Terrasse. Irgendwann treffen wir uns wieder, ich koche Abendbrot, mein Mann kommt nach Hause. War das ein schöner (Mutter-)Tag? Ja. Ich bin Mutter und hatte einen schönen Tag!

Zu viel oder überschaubar

Wir sind sieben Personen und besitzen entsprechend von allem viel. Zum Beispiel (mindestens) vierzehn mal Bettwäsche: Wenn ich die Bezüge wasche, kann ich neue aufziehen, bevor die alten trocken sind. Insgesamt halte ich unseren Besitz für eine überschaubare Menge; dennoch haben wir natürlich von manchem zu viel – zu viel Spielzeug, zu viele Bücher, zu viele Klamotten.

Gestern räumte eine meiner Töchter ihren Schrank aus. Das, was sie aussortiert hatte, ließ mich neugierig in ihren Schrank schauen. Er ist nicht leer, darin befindet sich nur nicht mehr zu viel, sondern eine gut überschaubare Menge.

Natürlich

Wir reden viel über Hygienestandards derzeit. Geschäfte werben damit, dass sie für die aktuell nötigen Abstände und Reinigungsmöglichkeiten sorgen können. Meist geschieht dies durch bereitgestelltes Desinfektionsmittel, Tücher sowie Plexiglas-Scheiben hier und dort. Auch in den demnächst öffnenden Schulen sollte natürlich für minimale Ansteckungsgefahr gesorgt sein. Dazu gehört, dass Abstände eingehalten werden und es die Möglichkeit gibt, sich regelmäßig die Hände zu waschen. Soweit so gut.

In einer Verlautbarung lasen meine Kinder, wie beispielsweise das mit dem Händewaschen gehandhabt werden soll: Nach jeder Pause und jedem Essen müssen die Schüler sich natürlich die Hände waschen. Es darf immer nur ein Schüler in den Sanitärbereich – klar, die Abstände; die Hände sollen 30 Sekunden lang gewaschen werden – wie man das heute so macht. Für 100 Schüler dauert das bei zwei verfügbaren Sanitärbereichen genau 25 Minuten, bis alle Schüler nach der Pause wieder am Unterricht teilnehmen können.

Natürlich gibt es nicht nur zwei Toiletten pro Schule; natürlich gehen bald nicht nur 100 Schüler wieder auf eine Schule. Und natürlich ist das eine sehr einseitige Betrachtung der Schulöffnung: Ich könnte auch noch über die Abstandsregeln nachdenken und darüber, wer darauf achten wird, dass diese eingehalten werden. Und schon haben wir eine super Illustration davon, dass sich zwischen Theorie und Praxis manchmal unüberschaubar große Klüfte auftun…