No go?

Ich habe einige Schuhpaare, fast alle sind schwarz, praktisch und bequem. Ausgesprochene Tanzschuhe sind nicht dabei – aber was sind schon richtige Tanzschuhe? Ich habe so selten Gelegenheit, mich dem Standardtanz zu widmen, dass ich keine extra Schuhe dafür benötige. Ein paar „richtig schicke Schuhe“ besitze ich, ziehe sie aber äußerst selten an – sie sind nicht sehr bequem.

In einem Gespräch mit ein paar Frauen wurde ich darauf hingewiesen, dass es buchstäblich ein „No go“ ist, mit anderen als richtigen Tanzschuhen zu einer Tanzveranstaltung zu gehen. Auf keinen Fall kann man Schnürschuhe anziehen – sie können noch so schön sein.

Am vergangenen Wochenende fand er statt, der Tanzstunden-Abschluss-Ball meiner Tochter. Was tun? Ich zog meine einzigen „richtig schicken“ Schuhe an, obwohl klar war, dass sie zu eng und unbequem sind, um gut und gern mit ihnen zu tanzen. Dafür passten sie zu meinem Kleid. Der Ball war sehr gut besucht; auf der Tanzfläche war selten und wenig Platz. Unsere Tochter amüsierte sich und tanzte viel – zweimal sogar mit ihrem Vater. Ich saß oder stand und schaute zu – und sah wahrscheinlich gut dabei aus. Wohl fühlte ich mich nicht. Nächstes Mal ist es für mich ein „No go“, etwas anderes als bequeme Schuhe anzuziehen. Nächstes Mal ist es mir egal, was man macht oder nicht.

Weite, Tiefe, Enge, Nähe …

Ich kenne jemanden, der beruflich viel fliegen muss. Mehrmals im Monat fliegt er innerhalb Europas hin und her, manchmal führt ihn eine „Geschäftsreise“ auch nach Übersee oder Saudi Arabien. Er kennt mit Sicherheit viele Flughäfen; Ein- und Auschecken ist für ihn Routine, Koffer packen und aus dem Koffer leben ebenso. Er hat ein Zuhause, aber er ist eben auch viel und weit unterwegs und genießt die Abwechslung.

Wie wenig das mit meiner Lebensnormalität zu tun hat, wurde mir klar, als ich kürzlich mit dem Fahrrad unterwegs war. Mein alltäglicher Radius beträgt ungefähr zwei bis sechs, maximal zehn Kilometer. In diesem engen Bereich spielt sich mein und unser Leben ab – Schule, Sportvereine, Laufrunden, Freunde und Bekannte, unsere Gemeinde. Hier sind wir zu Hause, kaufen ein, treffen Menschen; hier gehen wir zum Arzt oder ins Kino. Nicht alles ist wunderbar, aber bekannt und sehr vertraut. Von außen betrachtet könnte mein Leben gleichförmig wirken und langweilig, aber das ist es nicht: In diesem so abwechslungsarmen Sein begegne ich immer wieder denselben Menschen – ja. Aber unser Miteinander ist doch sehr komplex. Die Nähe zu anderen birgt Konfliktpotential und Möglichkeiten der Selbsterkenntnis – und hoffentlich der Selbstreflexion. Das gibt meinem Leben nicht unbedingt räumliche Weite, aber eine gewisse Denk-Tiefe.

Dagegen erlebte ich mein letztes Unterwegssein als oberflächlich: Das Flugzeug an sich ist bei Fernreisen praktisch; Flughäfen allerdings sind für mich sterile Orte – dieses anonyme Aufeinanderhocken von vielen Menschen im Sicherheitsbereich, berufsmäßig freundliches Bodenpersonal, gelangweilte Verkäufer in Duty-free-Shops. Die Flughäfen von Hannover und London wirkten – bis auf die Größe – ähnlich und austauschbar. Aber die Städte sind völlig verschieden und die Menschen ebenso. Von jetzt auf gleich war nichts mehr vertraut und bekannt. Auf den ersten Blick mag das spannend sein, sogar attraktiv und inspirierend. Das wurde es aber erst hinterher: Ich brauchte die Enge meines abwechslungsarmen Zuhauses, um meine Erfahrungen in der weiten Welt zu sortieren und einzuordnen.

Armutszeugnis

Letztens bei Pilates. Nach der Stunde fragt mich eine mir bis dahin unbekannte Mitstreiterin, wie lange ich schon Pilates mache. Als ich „zehn Jahre“ sage, freut sie sich: „Na, da kann ich ja hoffen, dass ich in neun Jahren auch so schöne Liegestütze machen kann.“ Ich bin verwirrt: Meine „schönen Liegestütze“ verdanke ich nicht meinen letzten zehn Jahren Pilates-Training. Wenn das alles ist, was ihr auffällt, ist es ein Armutszeugnis.

Zweckmäßig

Während wir ein Kleid für meine Tochter suchen, das sie zum Abschlussball der Tanzschule anziehen kann: In einem der vielen Spiegel erhasche ich einen Blick auf mich in meinem „Im-November-mit-dem-Rad-in-die-Stadt“-Aufzug und zucke innerlich zusammen. Es entspricht so gar nicht dem, was MAN heute trägt: Mein Outfit ist nur zweckmäßig: Als schön oder gar schick kann selbst ich es nicht bezeichnen. Nur zweckmäßig scheint sonst niemand angezogen zu sein. Geht das? Im Gespräch mit meinem Sohn einige Tage später sagt er dazu: „Das meiste, was ich anziehe, ist nicht zweckmäßig, Mama. Das geht auch.“

Sollte ich mal probieren.

Heute neu – morgen alt

Letztens war ich mit zwei Kindern einkaufen: Ein Kind brauchte eine Hose, das andere eine Jacke. Etwas zum Anziehen zu kaufen gehört nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Für meine Kindern mache ich es aber gern – in klaren zeitlichen Grenzen. Als wir erfolgreich den letzten Laden verließen, war ich versucht, für mich selbst die Kleiderständer „abzuscannen“: Ich habe mir schon lange nichts Neues mehr gekauft. Die Bedingungen waren sicherlich nicht die besten – ich war innerlich schon ein bisschen leer-gekauft und eher lustlos. Abgesehen davon beschlich mich ein mir vertrauter Gedanke: Ich bin ganz dankbar, dass ich im Grunde nichts brauche von dem ganzen Kram hier. Wäre schön – ja. Muss aber nicht sein.

Dazu kommt: Zu Hause entrümpeln wir ständig und trennen uns nach ein paar Jahren schon wieder von dem einen oder anderen Spielzeug. Die Schleich-Tiere, die vor wenigen Jahren noch hoch im Kurs standen, liegen in der Ecke; Lego-Sets werden von ihren Besitzern mittlerweile eher nach deren finanziellem Zeit-Wert beurteilt; manchen Büchern sind die jugendlichen Leser entwachsen. Nur wenig von allem werde ich für zukünftige Enkelkinder aufheben. Und so lerne ich am Beispiel Spielzeug, dass mein Besitz nicht zu umfangreich werden darf. Es lebt sich besser mit leichtem Gepäck. Diese Erkenntnis auf Kleidung auszuweiten, fällt mir nicht schwer…

Erntezeit

Früher – und für Bauern heute noch – bestand das Leben zum großen Teil aus harter Arbeit. Es war nicht nur bestimmt von Aussaat und Ernte: Dazwischen lagen Wochen oder Monate der Pflege. Erst am Ende dieser Zeit stand die Ernte dessen, was man gesät, gedüngt und gewässert und worum man sich gekümmert hatte. Erntezeiten waren deshalb Feierzeiten und sind es noch – wir erinnern uns daran mit dem Erntedankfest am ersten Sonntag im Oktober. Die Zeit des Wachsens und Gedeihens geht vorüber, der Winter naht. Zu ernten ist auch Arbeit, aber nicht nur: Sie ist auch der sichtbare Erfolg langer Mühen. Dem Ernten wohnt die Freude über das Ergebnis inne, das motiviert. Die Ernte zu verzehren macht dankbar.

Ähnliches gilt für das Leben. Lernen oder üben kommt immer vor Können – beim Laufen und Sprechen ebenso wie im Sport oder in der Schule. Jeder Erfolg, alles Selbstgemachte erfordert Kraft, Geduld, Zeit und Vorbereitung: Wenn man Kalender gestalten und verschenken will, muss man vorher Fotos sichten. Das Anschauen, Sortieren und Auswählen dauert Stunden und ist eine mühselige Arbeit. So schön viele Fotos sind, so viele weniger brauchbare sind dazwischen. Auf halber Strecke verlässt einen die Lust am Tun, aber man macht trotzdem weiter. Dann sind die Vorbereitungen abgeschlossen und sie ist da – die Zeit der Ernte: Mit einer guten Foto-Auswahl ist es keine mühselige Arbeit mehr, einen Kalender zu gestalten. Diesem Tun wohnt die Freude über das Ergebnis inne, das motiviert. Der fertige Kalender macht dankbar.

PS: Selber kaufen ist nicht dasselbe …

Ist die Mauer wirklich weg?

Das Jubiläum des Mauerfalls ist in aller Munde, aber wem bedeutet es was? Jeder hat seine ganz eigene Wahrnehmung von dieser unserer Deutschen Geschichte und bewertet sie eben auch ganz unterschiedlich: Ganz und gar gleichgültig, enttäuscht und frustriert oder immer noch dankbar und begeistert.

Ganz und gar gleichgültig: Es gibt viele Gründe dafür, mit dem Wunder des Mauerfalls nichts zu verbinden. Man kann zu jung sein, keine Verwandtschaft „drüben“ haben und, und, und. Trotzdem ist sie ein Fakt. Hervorgegangen ist sie aus einer großen Unzufriedenheit der Ostdeutschen mit ihrem Staat, ihrer Regierung – aber vor allem aus einer tiefen Sehnsucht nach Freiheit. Freiheit von Bevormundung, Freiheit der Gedanken, Meinungen und Überzeugungen bis hin zu freien Wahlen und freiem Reisen. All das wurde mit dem Mauerfall ziemlich bald Realität; aber für viele (vor allem West-)Deutsche hat sich dadurch erstmal gar nichts geändert: Die Mauer ist nicht mehr da – na und?

Enttäuscht und frustriert: Neben den Gleichgültigen gibt`s die Kritiker. Wir Ost- und Westbürger sind gleichermaßen nicht frei von Vorurteilen. Dass im Osten die AfD so stark ist, wundert die Westler; dass die Westler noch immer besser verdienen, ärgert die Ostler. Das errichtet gedankliche Mauern: Sicher gibt es Menschen, die noch immer in alten Grenzen denken – oder sie sich vielleicht sogar zurückwünschen. Auf beiden Seiten.

Dankbar und begeistert: Und dann sind da Leute wie ich. Natürlich ließ (und lässt) sich meine DDR-Vergangenheit nicht leicht abschütteln. Sie ist Teil von mir. Die äußere Mauer, die 1989 fiel, stürzte nicht von jetzt auf gleich auch in meinem Inneren ein: Es fiel mir schwer, mich beruflich frei und neu zu orientieren, mein Mann hat sich noch jahrelang über meine Angst vor Verkehrspolizisten amüsiert, ich kann bis heute mit Dominanz nicht gut umgehen etc. Und TROTZDEM – bin ich so dankbar! Was haben wir für einen Schatz mit dieser Vereinigung, was für eine Kostbarkeit ist uns anvertraut – und es ging ohne militärischen Einmarsch, ohne Blutvergießen. Ich weiß nicht, warum, aber ich vertraue darauf, dass es irgendwann gar keine Mauern mehr in unserem Land geben wird – äußerlich und innerlich.

Vorbei

Als ich meinen zehnjährigen Jüngsten letztens von den Pfadfindern abholte, verabschiedeten sich in der Nähe gerade eine Menge Kindergartenkinder mit ihren Eltern und einigen funzelnden Laternen voneinander. Ihr Laternenumzug war gerade vorbei, die Kindergarten-Leiterin fand noch ein paar abschließende Worte: Alle Kürbis-, Monster-, Haus-, Auto-,Tier- und sicher auch normale Laternen sollten noch einmal hochgehalten werden. Die Resonanz war – nun ja – mäßig begeistert. Was erwartet man von Drei- bis Sechsjährigen, die gerade eine knappe Stunde durch die Kälte gelaufen und hungrig sind? Und was von den Eltern, die meist noch ein Geschwisterkind im Schlepp haben und froh sind, wenn sie jetzt ENDLICH nach Hause gehen können? Genau: Da ist nicht mehr viel Schwung übrig.

Ich schaute mit einer gewissen zeitlichen Distanz auf das Ganze und dachte: Leute, es ist bald vorbei! Vor ein paar Jahren noch habe ich viele Laternenumzüge mitgemacht – und in großer Freiheit auch einige ausfallen lassen. Alles Geschichte. Momentan betrachte ich Laternenumzüge freundlich lächelnd, aber unbeteiligt. Daran wird sich bis zu meinen eigenen Enkelkindern nichts ändern. Alles hat seine Zeit.

Kein Herrschaftswechsel

Wenn Eltern ein Kind einschulen, hören sie meist die Voraussage, dass die Lehrerin für das Kind ziemlich bald größere Autorität haben wird Mutter oder Vater. „Frau Soundso hat aber gesagt, dass ich das nicht machen muss“, wird zur stärksten Drohung, die man der künftigen Schulkind-Mutter entgegen schleudern kann. Als hätte ich als Mutter nichts mehr zu sagen oder würde mein Kind ab sofort nur noch durch Schule lernen und geprägt werden.

Ich sehe das anders: Ich kann ganz viel nicht, wofür die Lehrer meiner Kinder besser ausgebildet sind. Andererseits kann und mache ich ganz viel, wofür die Lehrer meiner Kinder nicht zuständig sind. Von daher bleibt es als Mutter meine Aufgabe, mein Kind zu unterstützen und das zu ergänzen, was Schule nicht leisten kann oder nicht leistet. Radfahren und Schwimmen beispielsweise. Mit einem Autoritäten-Wechsel hat das nichts zu tun.

Das durch die Schule vermittelte Wissen ist mir nicht egal. Noten sind mir allerdings weniger wichtig als das, was unsere Kinder tatsächlich lernen und verstehen. In der Grundschule war es mir deshalb egal, ob die Rechtschreibung dort nicht beherrscht werden musste, das Schriftbild keine Rolle spielte oder es der Lehrerin reichte, wenn Vokabeln nur mündlich sitzen: Ich habe trotzdem mit den Kindern für Diktate geübt, auf eine ordentliche Handschrift geachtet und Vokabeln schriftlich abgefragt – ob die Lehrerin das verlangte oder nicht. In der weiterführenden Schule begleite ich weniger, lege aber noch immer Wert darauf, dass unsere Kinder die Grundlagen mitbekommen. Insofern habe ich meinen sehr persönlichen Anspruch an Schulbildung – und mache mich unabhängig von dem, was dem jeweiligen Lehrer wichtig ist.

Andererseits weigere ich mich, auf die Schimpftiraden meiner Kinder zu hören, wenn „der Lehrer Schuld war“ am schlecht ausgefallenen Vokabeltest oder der „viel zu schweren“ Klassenarbeit. Ich halte es für wichtig, dass Kinder ihren Lehrern grundsätzlich mit Respekt begegnen, sie ernst nehmen und ihre Autorität nicht in Frage stellen. Dazu gehört, dass Schüler sich in der Schule bemühen. Insofern arbeiten wir zusammen, die Lehrer und ich. Für die Kinder. Nicht weil ich schlauer bin als die Lehrer, sondern weil ich meine Kinder mehr liebe, bin ich (noch) die letzte Autorität für meine Kinder. Diese verleiht mir nicht das Recht, die Autorität von Lehrern infrage zu stellen. Aber sie betraut mich mit der Pflicht, trotz des Schuleintritts immer noch die letzte Instanz für meine Kinder zu sein.

Lebenszeit

„Kehre um und sage Hiskia, dem Fürsten meines Volkes: `So spricht der Herr, der Gott deines Vaters David: Ich habe dein Gebet gehört und deine Tränen gesehen. Siehe, ich will dich gesund machen …, und ich will fünfzehn Jahre zu deinem Leben hinzutun…´“
2. Könige 20, 5+6a

15 Jahre sind lang, oder? Als Gott zur Lebenszeit von Hiskia noch 15 Jahre hinzutat, war das viel. Ich habe diese Geschichte schon oft gelesen und staune jedesmal. 15 Jahre mehr leben dürfen, einfach so – nur Gott kann das schenken. Dennoch blieb die Geschichte um Hiskia für mich eine Geschichte.

Als ich vor sechs Jahren für einen todkranken Menschen um weitere 15 Jahre Leben betete, kam mir das vermessen vor. Damals ging es um Monate oder Wochen, die Endlichkeit des Lebens war sehr greifbar. Im Angesicht des Todes erschienen mir 15 Jahre unglaublich lang und mehr als genug. Dann wendete sich das Blatt, dieser Mensch erholte sich und darf seither weiterleben. Monat für Monat staunte ich und war dankbar – und gewöhnte mich daran. Bis heute.

Über sechs Jahre später ist eine Menge der erbetenen Zeit vergangen; und ich frage mich, warum ich damals nicht um 30 weitere Jahre betete. In der Rückschau erscheint mir die Zeit nicht mehr so lang – vor allem die noch verbleibende nicht. Jetzt, wo ich miterlebe, dass es für Gott tatsächlich keine Schwierigkeit ist, weitere Lebenszeit zu schenken, erscheint es mir weniger vermessen, darum zu bitten. Und ich hoffe, Gott gibt noch reichlich dazu.