Alles relativ

Was ich kann und was nicht, ist letztlich sehr beliebig und von vielen Faktoren abhängig. Nicht nur die eigene Sicht (halb volles oder halb leeres Glas), sondern auch die persönliche Tendenz (Angeber oder Tiefstapler) spielen eine Rolle. Ganz entscheidend ist auch der Moment – lerne ich etwas neu oder schon lange:

Vor allem ganz am Anfang macht man relativ große Fortschritte und ist mit diesen sehr zufrieden. Schon nach dem ersten Fußballtraining, dem ersten Klavierunterricht, dem ersten Tanzstunden-Abend denken wir: „Das klappt doch schon ganz gut“, was gut ist – so starten wir überhaupt und bleiben über den langen Zeitraum motiviert, den es braucht, eine Sache zu meistern. So lernen Kinder laufen und sprechen, so wird aus einer Kicker-Gurkentruppe eine erfolgreiche Fußballmannschaft und aus einem Klavier spielenden Fünfjährigen – vielleicht einmal – ein guter Pianist …

Je besser man eine Sache beherrscht, umso geringer und schlechter wahrnehmbar sind die persönlichen Fortschritte. Und je tiefer man in eine Sache einsteigt, umso klarer sieht man seine eigenen Defizite. Der Maßstab für „sehr gut“ verschiebt sich dann proportional dazu, wie sich die eigenen Fähigkeiten erweitern. Das ist herausfordernd – normalerweise kommen wir nicht an bei „sehr gut“, weil wir immer auch merken, was noch nicht so gut geht. Wir müssen dann aufpassen, dass wir bei allen Defiziten nicht übersehen, was wir doch schon können und wissen. Manchmal kann es hilfreich sein, zurückzuschauen – oder jemandem zu begegnen, der am Anfang steht. Ist eben alles relativ…

Ländlich

Wir wohnen nicht auf dem Land, aber fast: Wir wohnen am Rande einer Kleinstadt. Unser Haus wurde vor einigen Jahren von einem Specht auserkoren, seine Höhle in unseren Vollwärmeschutz zu hacken. Und derzeit hört es sich so an, als hätte sich ein Eichhörnchen in unserem Vordach eingenistet.

Außerdem sind wir zu Fuß schnell in der Walachei, wie wir unser grünes Umfeld gern nennen. Wir laufen da viel herum und nutzen meist dieselben Wege. Es gibt die Hauptverkehrsader der Rehe, einen Tummel-Acker für Hasen, und seit einiger Zeit weiß ich auch, in welches Roggenfeld sich ein Fuchs gern zurückzieht, wenn er mich kommen sieht.

Ob er den Hasen von dort aus ein überraschendes „Gute Nacht“ zurufen oder ihnen – ebenso überraschend – auflauern will, weiß ich nicht. Aber ich freue mich darüber, dass ich sowohl Fuchs und Hasen als auch Rehen öfter mal ein freundliches „Guten Morgen“ zurufen kann.

Nicht ohne Genitiv

Es gab mal ein Buch, das hieß „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ von Bastian Sick. Ich las es vor Jahren und fand es amüsant. Es ging natürlich um den Genitiv, aber ebenso um einige andere Regeln der Deutschen Sprache. Nicht alle waren mir so präsent wie dem Autoren, nicht alle hätte ich so gut und leicht lesbar zu Papier bringen können. Aber in der praktischen Umsetzung der Grundsätze meiner Muttersprache fühlte und fühle ich mich sicher.

Kinder lernen das Sprechen so nebenbei. Sie plappern nach, was sie hören. Wenn sie klein sind, unterlaufen ihnen Fehler, Eltern wiederholen ohne Fehler – und schwupps: Irgendwann sprechen Kinder dann so richtig oder falsch wie ihre Eltern. Keine Regel war dabei so oft in unserem Mund wie dieses eine Wörtchen und wie es nach ihm weitergeht – wegen plus Genitiv. Es hat gedauert, aber irgendwann mussten wir die Kinder nicht mehr korrigieren.

Andere Menschen verbessere ich natürlich nicht. Das wäre komisch; und obwohl es mir manchmal auf der Zunge liegt, halte ich mich zurück. Nur Autoren korrigiere ich, beim Vorlesen. Ich bringe diese Verbindung einfach nicht über die Lippen – wegen plus Dativ, obwohl sie penetrant um sich greift.

Sprache entwickelt sich weiter. Und ich versuche, Schritt zu halten. Vielleicht ist es schon korrektes Deutsch, wegen dem Baum zu sagen. Für diese Anpassung des Regelwerks an die vorherrschenden Gegebenheiten bin ich definitiv zu alt. Oder zu stur.

Kollegen

Ich habe keine und hätte doch so gern Kollegen. Warum?

Weil Kollegen sich gegenseitig inspirieren und ihren Horizont erweitern.
Weil Kollegen gemeinsam auf ein Ziel hin arbeiten – und doch jeder für sich.
Weil Kollegien zusammengewürfelte Menschen mit einer Schnittmenge sind.
Weil Kollegen sich auch privat kennenlernen können, das Private aber eben nicht das Einzige ist, was sie verbindet.
Weil Kollegen anstrengend sein können und deshalb eine gute Lebensschule.
Weil man mit Kollegen feiern kann. Manche singen sogar zum Spaß gemeinsam.
Weil man sich mit Kollegen über einen Erfolg freuen kann.
Weil Kollegen einander brauchen – und sich das vielleicht sogar sagen.

Vielleicht habe ich eine zu schöne Vorstellung von Kollegen. Kann sein.

Real oder fiktiv

Spannende Filme sind nichts für mich: Ich kann sie nicht sehen, ohne mich zu fürchten oder zu erschrecken. Mein Kopf weiß, dass es sich nur um eine Geschichte handelt; mein Gefühl lässt sich dennoch nicht abschalten – auch ohne Special Effects erlebe ich (auch leichte) Spannung als beängstigend. Sogar hervorsehbare Situationen sind mir schnell zu aufregend. Lieber schaue ich nicht hin.

Gute Filme machen so etwas, sie gehen unter die Haut, das soll so sein. Nicht die Trennung von Realität und Fiktion fällt mir schwer. Mir ist schon klar, dass ein Film ein Film ist und nicht die Wahrheit. Ganz real ist aber die Angst in mir, die Aufregung – ich kann sie körperlich spüren. Ist doch komisch. Im wahren Leben würde ich mich nicht als ängstlich und schreckhaft bezeichnen. Was Filme angeht, schon.

Was heißt schon „informiert“?

„The kind of food we devour will determine the kind of person we become.“
J. Stott
(Das, womit wir uns füttern, bestimmt, was für ein Mensch wir werden.)

Viele Nachrichten sind sicherlich wichtig. Neuigkeiten gehen in Windeseile um die Welt. Wenn wir sie regelmäßig lesen, kommen wir uns informiert vor. Morgen sind die Neuigkeiten von heute jedoch schon wieder alt. „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern“, sagt mein Mann manchmal so treffend, wenn ich ihn festnageln will auf eine im Vorbeigehen getätigte Aussage.

Welche der Nachrichten interessieren mich wirklich? Fußballergebnisse, Naturkatastrophen, persönliche Desaster anderer Menschen, Auffahrunfälle in Süddeutschland, die letzten Tweets von Donald Trump… Das Wissen um all diese Dinge hat Platz in meinem Hirn, das ich ohnehin nur zu einem geringen Teil auslaste. Viele dieser Informationen sind allerdings sehr vergänglich und machen mich nicht schlauer, lassen mich nicht anders reagieren, berühren mich letztlich nicht wirklich. Ich muss und kann auswählen, womit ich mich füttere. Zumal ich mir ganz viel auch nicht wirklich merken kann.

Dietrich Bonhoeffer wusste sehr viel, war viel schlauer als ich und durchschaute die Welt seiner Zeit. Er wusste aber auch, sich zu beschränken und wählte sorgfältig aus, welchen Informationen er sich aussetzte. Er sagte schon vor 70 Jahren, wir sollten mehr Bücher lesen und weniger Zeitung. Allgemein sehr belesen, kannte er als Theologe die Bibel besonders gut. Einzelne Verse hat er tage- oder sogar wochenlang meditiert. Er wusste: ALLES, was wir mit unserem Geist aufnehmen, formt uns. Also entschied er sich, wie, von wem und durch welche Informationen er sich formen lassen wollte. Er gab dem Raum, was er für wichtig und gut und notwendig hielt. Das machte ihn letztlich zu dem, der er bis zuletzt war – ein besonderer, starker Mensch, im Frieden mit sich und Gott, getragen, voller Hoffnung und bis zuletzt ein Trost für die Menschen um ihn herum.

Heutzutage lesen wir noch immer Bücher und die Zeitung entweder gar nicht oder nur oberflächlich. Stattdessen informieren wir uns pausenlos im Netz, saugen Informationen auf wie ein Schwamm – ungefiltert, unkontrolliert, ungeachtet der Sicherheit der Quelle und denken, wir wären informiert. Ob uns diese Gehirn-Nahrung zu starken und weisen Menschen macht, wage ich zu bezweifeln. Trotzdem gelten wir nicht gern als „schlecht informiert“. Obwohl das ein sehr zweifelhaftes und vor allem nicht hilfreiches Gütezeichen ist…

Voll

„Mein Leben ist ganz schön voll, zu voll“, höre ich immer öfter. Gemeint ist die Fülle an Arbeit, Familie, Unternehmungen. An sich ist alles schön, gut und wichtig, aber in der Summe ist das Leben von vielen Menschen zu voll. Was fehlt, ist eine gute Balance von Anspannung und Entspannung.

Neben beruflichen Entwicklungschancen (die lasse ich hier mal außen vor) gibt es zahlreiche Möglichkeiten: persönliche Hobbys, Freizeitangebote, Reiseziele, Kultur – diese Vielfalt ist großartig. Auch ich könnte mich in Aktivitäten verlieren.

Ich würde gern:

  • einen Tanz-Workshop machen,
  • in einem Laien-Chor singen,
  • solange Handstand üben, bis ich ihn sicher stehen kann,
  • mit Muße an einem Fotokurs teilnehmen,
  • mich der englischen Sprache nicht nur durch Bücher und Filme aussetzen, sondern sie richtig studieren,
  • doch nochmal Klavierunterricht nehmen (???),
  • Themenabende veranstalten und in kleiner Runde über Geschichte und Politik austauschen,
  • bei einem „personal trainer“ Kraulschwimmen lernen,
  • einmal die Woche klettern gehen,

All das sind keine unerfüllbaren Träume – die gibt es noch zusätzlich -, all das wäre theoretisch machbar und realisierbar. Vielleicht nicht alles auf einmal, ich müsste mich entscheiden. Noch aber scheitert die praktische Umsetzung an gewissen Grenzen: Meine Kraft, meine Kapazität, meine Zeit – nichts davon steht mir unbegrenzt zur Verfügung. Letztlich ordne ich meine persönlichen Wünsche dem Gesamtpaket unter. Es ist mir bewusst, dass ich nicht alles machen kann, was ich gern machen würde: Dann machte ich vor allem eins irgendwann – schlapp. Also verzichte ich freiwillig und lasse Dinge sein, die – wie man so schön sagt – derzeit nicht dran sind. „Es passt noch nicht“ bedeutet dabei nicht das Eingestehen einer Niederlage, sondern den weisen Umgang mit meinen Ressourcen. Verzicht ist nicht nur schlecht. Etwas nicht zu tun, verhindert, dass mein Leben zu voll wird. Und das ist mir wichtiger, als alles „unterzubringen“, was schön und möglich wäre.

Das Leben ist kurz

„Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn´s hoch kommt, so sind´s achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.“
Psalm 90, 10

Je länger ich lebe, umso öfter denke ich, wie kurz das Leben ist und wie schnell die Zeit vergeht. Sie vergeht natürlich nicht schneller als früher, es kommt mir nur so vor – das ist mir schon klar. Ich nehme den Zeitverlauf bewusster wahr, weil ich anders beobachte als früher.

Kleine Kinder lernen andauernd etwas: Sie lernen sprechen und laufen, werden trocken, lernen Fahrrad fahren und schwimmen, kommen in den Kindergarten und später in die Schule. Der Alltag mit ihnen ist bestimmt von immer wiederkehrenden Aufgaben – tage-, wochen-, monatelang. Jeder Entwicklungsschritt ist ein willkommener Erfolg: Keine Windeln mehr, keine Brote mehr schmieren usw. Und natürlich verändern kleine Kinder sich optisch und wachsen schnell. Weil ich aber als Mutter kleiner Kinder so eingespannt war, nahm ich diese Veränderungen oft vor allem im Nachhinein wahr – beispielsweise durch das seltene Anschauen von Fotos.

Seit einigen Jahren schon beherrschen alle unsere Kinder weniger meinen gesamten Alltag als vielmehr grundsätzliche Lebensfertigkeiten. Bald werden alle auf dieselbe Schule gehen. Mein Leben ist weniger voll, ich habe mehr Gelegenheit zum Innehalten. Und so registriere ich bewusst, wie meine Kinder älter, größer und reflektierter werden und immer mehr auf meine Augenhöhe kommen.

Ich sehe, wo die vergangenen 15 Jahre geblieben sind – aber nicht nur in den Kindern: Auch meine eigene Belastbarkeit empfand ich früher als gleichförmig stabil und stark. Dem ist seit einigen Jahren nicht mehr so, heute spüre ich eher meinen eigenen körperlichen Verfall. Es stimmt, wenn der Prediger über das Leben sagt „… es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.“ Also will ich im Verfliegen der Zeit die Ruhe bewahren und einzelne Momente, Stunden, Tage und Lebensphasen bewusst erleben, genießen und gestalten. Ich fliege nicht mit, ich halte inne im Jetzt.

Nebenbei

In einem Gespräch sagte ich letztens zu meiner Nachbarin: „Die Wäsche, die mache ich so nebenbei.“ Noch vor einigen Monaten hatte mir jemand genau diesen Satz gesagt – und ich hatte gedacht: „Ich nicht. Wäsche nimmt viel Raum ein in meinem Leben, die erledige ich nicht nebenbei.“

Vor Monaten ging es mir körperlich, seelisch und geistig nicht gut. Alles war mir zu viel, auch die Wäsche. Nichts, was ich tat, erschien wie nebenbei: Alles war mir Last und Pflicht, meinem Tun fehlten die Freude und Leichtigkeit. Das ist derzeit glücklicherweise wieder anders; die Gründe dafür sind eine andere Geschichte.

Mein „… mache ich so nebenbei“ stimmt trotzdem nur teilweise. Es ist richtig, dass ich dasselbe Pensum (inklusive der Wäsche) wieder mit mehr Lockerheit und Schwung erledige. Es ist aber falsch, dass ich irgendetwas nebenbei tue, denn: Neben welchem zentralen Tun denn eigentlich? Mache ich den Einkauf ebenso nebenbei, das Kochen, das Putzen? Ist es dagegen zentraler, wenn ich mit den Kindern rede, Hausaufgaben kontrolliere, im Garten Fußball spiele, sie irgendwohin fahre?

Alles gehört zu meinen derzeitigen Lebens-Aufgaben. Manches mache ich lieber als anderes, nichts davon ist nebenbei. Für nebenbei ist in meinem Leben kein Platz.

Solche Menschen

Ich kenne Menschen, die nicht körperlich arbeiten und trotzdem überzeugte Nicht-Sportler sind. Wenn ich ihnen begegne und die Sprache darauf kommt, bin ich jedesmal bass erstaunt. Als hätten sie mir gerade eröffnet, dass sie demnächst an einer Mars-Expedition teilnehmen würden. „Wie bitte?“, denke ich, „Die machen freiwillig gar keinen Sport – und es fehlt ihnen nichts? Das kann nicht sein. Solche Menschen kann es nicht geben.“

Natürlich weiß ich, dass „solche Menschen“ wahrscheinlich sogar in der Überzahl sind, aber dieses Desinteresse ist mir trotzdem sehr fremd. Möglicherweise bin ich in ihren Augen eine gleichermaßen merkwürdige Person, weil ich so viel Wert lege auf Bewegung, die mit einer gewissen körperlichen Anstrengung einhergeht. Zum Trost für uns alle: „Solche Menschen“ gibt es meist in großen Mengen.