Kunde oder Kollateralschaden

Vorab: Ich höre kein Radio. Vielleicht sollte ich „kaum“ sagen, denn meine Kinder tun es – und manchmal bin ich währenddessen mit ihnen zusammen. Kaum also. Es fehlt mir nicht. Ich höre auch keine andere Musik nebenbei – höchstens während ich bügele. Ansonsten höre ich Musik nur, wenn ich wirklich Musik hören will. Es ist für mich eine eigenständige Tätigkeit.

Wenn ich in einen Klamottenladen gehe, empfinde ich die meist erklingende Musik als herausfordernd. Sie raubt mir die Ruhe und nimmt mir die Lust, mich interessiert umzuschauen. Sie macht mich gleichzeitig müde und hibbelig. Das, was es mir schön machen soll im Laden, macht es mir unangenehm. Oft frage ich mich, ob es den Verkäufern nicht genauso geht und wer eigentlich entscheidet, dass in vielen Geschäften immer Musik laufen muss.

Für mich müssten sie nichts abspielen, für mich als Kundin – und bin ich nicht König? In meinem Fall steht die Musik meiner Bereitschaft im Weg, mich länger und gern in diesen Läden aufzuhalten und Geld gegen Ware zu tauschen. Entweder, es geht nicht um die Kunden, was komisch wäre. Oder aber ich bin der Ausnahmefall, eine der wenigen Personen, die nicht mehr und lieber einkauft, wenn sie dabei Musik hören kann. Mein persönlicher Unwille beim Shoppen ist dann vielleicht der Kollateralschaden, der in Kauf genommen wird, weil man es eben nicht jedem recht machen kann.

Es wäre doch interessant, wieviele Leute die Musik in Geschäften wirklich schätzen, gleichgültig über sich ergehen lassen, schlicht ertragen oder ebenso störend finden wie ich. Bei einer solchen Studie würde ich mitmachen. Es kann auch alles so bleiben, wie es ist – es würde mich nur interessieren, wie groß der eingeplante Kollateralschaden ist.

Mindblowing

Letztens sah ich mit meinen Töchtern „Britain´s got talent“. Diejenigen, die weit kommen und von der Jury gelobt werden, hören Einschätzungen wie „you are a superstar“ oder „your performance was mindblowing“. Auch „incredible“ wird oft und gern bemüht, um besondere Talente zu beschreiben. Die anderen schaffen es nicht durch die Vorauswahl, die meine Töchter treffen, bevor sie mich zum gemeinsamen Fernsehen einladen. Zum besseren Verständnis: Ein Superstar ist ein Star, der super ist. Super ist besser als eins, oder? „Mindblowing“ bedeutet soviel wie irre oder toll (mir das Gehirn wegblasend eben); und „incredible“ heißt – man glaubt es kaum – unglaublich.

Die Leute, die es bis zu „Britain´s got talent“ geschafft haben, sind talentiert, keine Frage. Sehr talentiert sogar. Diejenigen, auf die meine Töchter mich aufmerksam machen, bringen mich zum Staunen: Ich kann nicht leugnen, dass Gott manchen Menschen besondere Gaben mitgegeben hat. Und ich bin mir darüber im Klaren, dass es nur wenige bis ganz nach oben schaffen und dass das nur selten am Talent liegt. Gründe für Misserfolg sind eher, dass sich Gelegenheiten nicht bieten, Beziehungen nicht existieren oder die eigene Ambition doch nicht ausreichend vorhanden ist. Dennoch empfinde ich eine gewisse Skepsis gegenüber der Verwendung von Worten wie „herausragend“, „unfassbar“ oder eben „mindblowing“. Aussagen in dieser Richtung müssen sich meiner Meinung nach auf eine sehr geringe Anzahl von Menschen beziehen, um den Status des Herausragenden zu erhalten. Mein eigenes Talent in Sachen Musik würde ich bestenfalls als durchschnittlich beschreiben. In manch anderer Hinsicht liege ich vielleicht über dem Durchschnitt, aber nur ganz knapp; im Zeichnen bin ich eine Niete. Unglaublich, irre oder Superstar sind Attribute, mit denen ich mich und Menschen in meinem persönlichen Bekanntenkreis nie in Verbindung bringen würde. Oder?

Zu einer ähnlichen Kategorie gesprochener Superlative gehören Formulierungen wie: „Wir haben den Gegner heute komplett zerstört.“ Diese Meldung erschallt in unserem Haus des öfteren – vornehmlich nach einem Fußballspiel. Sind derartige Glanzleistungen ein Zeichen des 21. Jahrhunderts? Oder bin ich den Weltklasse-Talenten in meiner Jugend nur nicht über den Weg gelaufen? Auf jeden Fall habe ich den Umgang mit Worten wie unfassbar, unglaublich, deklassierend nicht wirklich gelernt…

Einzige Ausnahme: Die Geburten meiner Kinder. Dass da von einem Moment auf den anderen (von den schmerzhaften Stunden davor großzügig abgesehen) ein Mensch lag und schrie, wo vorher keiner war – das fand ich unglaublich. Wie sich in den letzten Jahren aus diesen kleinen Menschlein sehr einzigartige Persönlichkeiten entwickelt haben – das ist ein Geheimnis. Unfassbar toll, vielleicht sogar „mindblowing“!

Die Gnade zwischen richtig und gut

„So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“
Römer 3, 28

Zwischen richtig und falsch liegt in Mathematik manchmal nur eine Zahl, in einem Text ein Wort, in einem Wort ein Buchstabe. Im wahren Leben gibt es neben richtig und falsch unter anderem auch noch gut. Zwischen richtig und gut spielt sich mehr ab, als man auf den ersten Blick denkt: Pünktlich sein oder zu einem privaten Treffen mit der ganzen Familie stressfrei und ohne Streit ankommen. In einer Diskussion nicht nachgeben und Recht behalten oder um Verständnis ringen und das mit dem Recht nicht klären – aber dafür gemeinsam Essen kochen (oder so). Sich der Obrigkeit unterordnen – um jeden Preis – oder sich wie Bonhoeffer für den Widerstand entscheiden – auch um jeden Preis.

Ich will nicht sagen, dass Regeln dazu da sind, ignoriert zu werden – keinesfalls. Aber Regeln als alleiniger Maßstab erscheinen mir nicht in einen leb-baren Alltag zu münden. Denn: So richtig eindeutig ist „richtig“ oft nicht zu definieren. Was von einer Seite richtig aussieht, kann sich auf der anderen Seite zwar vielleicht nicht falsch, aber auch nicht gut anfühlen. Und dann ist „richtig“ zwar manchmal die einfachere Lösung, aber keine gute. Für „nicht richtig“ brauche ich meistens Mut und immer Vertrauen, dass mir mit Gnade begegnet wird. Bei Gott liegt zwischen richtig und gut Jesus mit seiner Vergebung.

Geplant + nicht geschafft = schlecht?

Es gibt ein gewisses Standardprogramm in meinem Alltag. Wie jede Berufstätige habe auch ich einen Aufgaben-Kanon, den ich einfach abarbeiten muss. Darüber hinaus gibt es Ideen, Pläne und Vorhaben, die ich selbst dazu packe, die aber weniger dringlich sind. Diese werden bei mir häufig durchkreuzt beziehungsweise müssen sehr flexibel neu arrangiert werden: Es regnet den ganzen Tag und ich kann den Rasen nicht mähen. Oder die Hausaufgabenhilfe für meinen jüngsten Sohn ist dermaßen langwierig, dass ich für den ursprünglich geplanten Brief keine Muße mehr habe. Oder ich muss einfach früh ins Bett und habe für ein Telefonat oder die Bügelwäsche keine Kraft mehr. Oder es kann sein, dass ich einfach doch keine Lust habe, die Fenster zu putzen.

Das bewirkt, dass meine To-do-Liste ständig erneuert, abgestrichen und ergänzt wird. Manchmal steht mehr drauf, manchmal weniger, ganz leer ist sie nie. Und nur sehr selten erledigt sich eine Sache von selbst oder wird von einem anderen Heinzelmännchen abgearbeitet. Das bewirkt auch, dass ich bisweilen ganz ungeplant auf dem Sofa sitze und einen Asterix-Band vorlese und danach eine Partie Phase 10 spiele und es dann schon Zeit fürs Abendbrot ist … Obwohl ich doch die vielen Äpfel verarbeiten wollte, die da unterm Apfelbaum liegen und in zwei, drei Tagen nicht mehr so gut schmecken oder faulen oder von Insekten (halb) aufgefressen sein werden. Ich habe dann weniger „geschafft“, aber ist der Tag dadurch auch weniger wert? Natürlich ist das eine Buch (nach und vor vielen anderen vorgelesenen Büchern) nicht wirklich wichtig für mein Kind. Natürlich könnte er auch ohne das gemeinsame Spiel einen schönen Nachmittag haben. Ich will das gar nicht gewichten. Dafür wären dann ja mehr Äpfel zu apple crumble verarbeitet und weniger auf dem Kompost gelandet.

Ist mein Tag erfolgreicher, wenn ich viel schaffe von dem, was ich mir vornehme? In der Regel sind es ja doch auch Dinge, die getan werden sollten. Aber wer entscheidet, ob der pünktliche Geburtstagsbrief wichtiger, richtiger ist als der entrümpelte Keller oder die Laufrunde nur für mich? Wir machen immerzu etwas und lassen etwas anderes sein; und wir bewerten immerzu, dass das eine wichtiger ist als das andere. Das ist ja auch in Ordnung – solange wir nur für uns selbst bewerten und nicht für andere. Solange wir uns zumindest bewusst sind, dass unser eigenes Wertesystem eine sehr subjektive Geschichte ist.

Früher habe ich ALLE Äpfel, die zu Boden fielen, verarbeitet. Und Bücher vorgelesen und Geburtstagsbriefe pünktlich abgeschickt. Und ganz regelmäßig die Fenster geputzt. Heute erlaube ich mir (warum auch immer), Aufgaben nicht oder nicht sofort zu erledigen. Ich merke zweierlei: Zum einen – Fenster, Äpfel, Bücher (und manchmal sogar Kinder) können warten. Zum anderen – ich schaffe trotzdem noch eine ganze Menge.

Muss ich oder kann ich?

Mein Leben besteht aus zwei Hälften. Sie sind nicht gleich lang, aber wahrscheinlich gleich wichtig: Die eine Hälfte endete gestern, die zweite Hälfte fängt morgen an. Die eine Hälfte liegt hinter mir und bereichert mein Heute mit Erfahrungen; die zweite Hälfte liegt vor mir und bereichert mein Heute mit Erwartungen. Jetzt könnte ich denken, der größere Teil ist schon vorbei und ich stelle mir den Rest meines Lebens wie einen sich verengenden Trichter vor. Die Möglichkeiten und Gelegenheiten werden weniger, weil mir weniger Zeit bleibt, sie zu tun, und weil ich älter und weniger leistungsfähig werde. Außerdem ziehe ich (scheinbar?) mit jeder getroffenen Entscheidung engere Grenzen, was noch erlebbar ist.

Aus anderer Perspektive betrachtet nehmen die Möglichkeiten und Gelegenheiten zu, weil ich weniger erledigen muss (Berufsausbildung, Familiengründung, sesshaft werden), ich älter (und weiser) werde und vielleicht ja auch vermögender.

Entscheidungen trifft man ja immer für eine und automatisch gegen mindestens 17 andere Sachen. Einerseits: Bestimmte Dinge kannst du nicht mehr machen. Noch ein Studium geht nicht, noch ein Kind geht nicht, noch ein halbes Jahr im Ausland geht nicht. Andererseits: Ich muss gewisse Dinge nicht mehr machen und kann die Zeit für anderes nutzen als für ein Studium, ein weiteres Kind, ein Auslandsjahr.

Solange ich entscheide, gestalte ich. Ich konnte das immer, und es war schon immer begrenzt – früher von anderen Dingen und Umständen als heute. Das stärkste Limit ist in meinem Kopf, das größte Hindernis ist mein nicht vorhandener Mut. Und: Letztlich ist mein Gestaltungsspielraum immer gleich – es ist immer nur der heutige Tag. Der heutige Tag ist der einzige, den ich wirklich besitze. Das war schon immer so und wird immer so bleiben.

Zwangskoppelungen

Laut Wolf Schneider, dem Sprachkritiker und Vorbild-Journalisten Deutschlands, gibt es so etwas wie Zwangskoppelungen: „Die allzu lange währende Ehe eines Substantivs mit dem immer selben Adjektiv“, meint er damit. Konkret fallen darunter solch bekannte Formulierungen wie „massiver Druck“, „herbe Enttäuschung“ und „bitterer Ernst“.

Ich habe gemerkt, dass es in meinem Leben Zwangskoppelungen gibt, die sich allerdings eher aufs Tun als aufs Reden beziehen: Wenn ich ohnehin das Auto nehmen muss, kann ich gleich noch Wasser, Toilettenpapier und andere Dinge besorgen, bei der Schneiderin anhalten, tanken und durch die Waschanlage fahren. (Oder wenigstens eins davon.)
Hat jemand hier angerufen und mich nicht erreicht, muss ich sofort zurückrufen.
Spüre ich eine aufkommende Erkältung, erledige ich doch schnell noch ein paar Dinge, die mir morgen vielleicht schwerer fallen – Fußböden wischen, bügeln, Essen vorkochen.
Ist das Wetter schön, muss ich raus. Lesen kann ich, wenn´s regnet.
Habe ich angefangen ein Buch zu lesen, muss ich es beenden – auch wenn es mir nicht gefällt.

Manche dieser Zwangskoppelungen sind tatsächliche Zwänge, denen ich mich freiwillig unterwerfe. Die Sache mit dem Auto kommt noch aus der Phase meines Lebens, in der ich aus ökologischen Gründen überhaupt nur höchst ungern ein Auto benutzt habe. Telefonanrufe wurden in meinem Elternhaus möglichst zeitnah erwidert. Meine Betriebsamkeit angesichts einer drohenden Erkrankung speist sich wohl aus dem – nicht immer wahren – Gedanken, dass hier alles zum Erliegen kommen könnte, wenn ich ausfalle. Zum einen ist das großer Quatsch, zum anderen – was heißt schon „zum Erliegen“?

Wie dem auch sei: Zwänge brauchen immer ein williges Opfer, sonst verlieren sie ihre Macht. Ich übe mich in der Freiheit – in Sachen Wetter (raus gehen) und Bücher (fertig lesen) bin ich schon ganz erfolgreich…

Am Ende vieler Schritte stehe ICH

Hätte, hätte, Fahrradkette – wer kennt diesen Spruch nicht! Es gilt für Gutes Schwieriges: Eine halbe Stunde früher losfahren – und nicht im Stau landen. Sich bei bestem Wetter aufmachen zu einem Spaziergang und den spontanen, unangekündigten ´once in a lifetime`-Besuch eines alten Freundes verpassen.

Mit 20 fuhr ich zum ersten Mal nach Österreich, auf eine Alp. Ich hatte kurz Aufenthalt in Wien, glaube ich, ein junger Mann sprach mich an – ob ich eine Unterkunft gebrauchen könne. Obwohl dem nicht so war, kamen wir ins Gespräch über meinen gewünschten Aufenthalt in Kanada als eine, die für Kost und Logis auf Höfen arbeitet. Er hatte das auch schon gemacht, allerdings in Australien. Eine Adresse gab er mir: „Die sind echt nett.“ Kurzentschlossen schrieb ich hin – und erhielt keine Antwort. Trotzdem buchte ich einen Flug nach Australien (und nicht nach Kanada), kaufte einen Rucksack, reichte zwei Urlaubssemester ein. Eine Woche vor dem Abflug rief ich bei der Familie an: „Yes, come over, we´re looking forward to meeting you!“ Australische Gelassenheit.

Von dieser Anlaufstelle aus wurde ich weitergereicht – zum Bruder mit der Schaffarm, zur Schwester in der Hauptstadt, zu einem Schmied. Ein halbes Jahr war ich in „down under“ – und könnte ganz viel darüber schreiben…

Die Begegnung am Bahnhof von Wien war kurz, den jungen Mann habe ich nie wiedergesehen. Aber sie hat Weichen gestellt für mein Leben, deren Folgen ich jetzt noch spüre. Irre. Entscheidungen an Wegkreuzungen sind folgenschwer – in jeder Richtung. Ich werde so oder so verändert und geprägt. Das kann uns mutig einfach losgehen oder auch den nächsten Schritt gut abwägen lassen. Ist wohl typabhängig. Aber jedes Losgehen führt uns nicht nur irgendwohin, sondern macht uns letztlich zu dem Menschen, der wir am Ende sind.

Die Reichweite eines Feiertages

3. Oktober, Tag der Deutschen Einheit, ein Feiertag. Ein Tag, der zwar vom Datum her noch immer unlogisch erscheint – weniger gewachsen als künstlich geschaffen -, aber trotzdem ein Tag, der Bedeutung für mich hat. Ich bin dankbar dafür, ich weiß nicht nur im Kopf wofür er steht, mein Herz weiß es auch. Ich habe erlebt, wie es vorher war und wie nach dem Fall der Mauer. Ich war Teil der Montagsdemos, habe 1989 gestaunt, geheult, Bananen gegessen und dieses Westberlin erkundet, das schon immer so nah dran war an Ostberlin und doch unerreichbar weit weg.

Für meine Kinder ist der Tag der Deutschen Einheit letztlich schwer vermittelbar. Für sie ist das ohnehin ein Land, dieses Deutschland; dass das mal anders war, wissen sie zwar, aber es ist ein emotionsloses Wissen. Kein Staunen dabei, kaum Dankbarkeit – höchstens für den freien Tag und dass wir abends „zur Feier des Tages“ etwas Besonderes essen.

Das ist schade, aber es ist kaum zu ändern. Ganz schwer nur können sie einen Bezug dazu herstellen. Genauso wie für mich die beiden Weltkriege zwar sachlich schlimm sind, ich aber letztlich nicht – wie meine Eltern und Großeltern – nachvollziehen kann, was Krieg bedeutet. Gefühle sind schwer vermittelbar. Trotzdem ist das Erinnern wichtig. Vielleicht färbt ja die tiefe Freude ihrer Mutter über das vereinigte Deutschland teilweise auf meine Kinder ab. Nur darf diese dann auch in mir nicht vollständig einer alltäglichen Selbstverständlichkeit weichen … oder der Lüge mancher Leute, die in der DDR das menschenfreundlichere Gesellschaftsmodell sehen … oder der Gleichgültigkeit anderer, für die der Osten Deutschlands weiter weg, unbekannter und unattraktiver ist als die Dominikanische Republik.

Fremdeinschätzung erwünscht – aber bitte freundlich!

Ich habe ein ganz bestimmtes Bild von mir, insgesamt positiv – klar, aber in gewissen Aspekten auch kritisch. In manchen Situationen hätte ich mich gern anders – geduldiger, sanfter, nachgiebiger, fröhlicher, zufriedener…

Andere haben auch ein Bild von mir, insgesamt positiv – hoffentlich, aber in gewissen Aspekten auch kritisch. Ihre Kritikpunkte weichen von meinen eigenen ab. Je näher mir die Menschen stehen, umso mehr entspricht ihr Bild von mir wohl der Wahrheit. Das heißt nicht, dass es meiner eigenen Wahrnehmung entsprechen muss. Selbst- und Fremdwahrnehmung sind nicht deckungsgleich. Das ist normal. Interessant ist, was welche Abweichung in mir auslöst:

Schneide ich bei anderen positiver ab als bei mir selbst, bin ich dankbar für die Rückmeldung und froh. Ich stelle die Wahrhaftigkeit der Beobachtung nicht wirklich in Frage, auch wenn ich mich kaum wiedererkenne. Solange andere mich netter (freundlicher, geduldiger, liebenswürdiger…) finden als ich mich selbst – alles gut.

Hält mein Gegenüber mich für weniger nett (freundlich, geduldig, liebenswürdig…) als ich mich selbst, ärgere ich mich und bin vom tatsächlichen Wahrheitsgehalt der Einschätzung nicht unbedingt überzeugt. „Das kann doch wohl nicht wahr sein“, denke ich, „dass der/die mich so sieht (und mir das auch noch sagt)!“ Ich schneide nicht gut ab und erkenne mich kaum wieder.

Was mache ich mit solch einer kritischen Einschätzung? Emotionen helfen nicht weiter – leider, davon habe ich in diesem Fall immer eine Menge zu bieten (Wut und Frust in diversen Schattierungen). Auch mein Verstand scheint umwölkt; ohne meine subjektive Brille kann ich schlecht sehen. Toll wäre – ganz objektiv sortieren: Was kann ich teilen, was nicht? Welche Kritik ist berechtigt, welche nicht nachvollziehbar? Jemand, der mir nahesteht, will mich in der Regel nicht runtermachen, oder? Also kritisiert er, was er kritisiert, um??? Mich zu korrigieren, mir die Augen zu öffnen, mir zu helfen beim Mensch-Sein. Ich will das – ja! Aber ich dachte vorher, es würde schmeichelhafter für mich ausfallen.

Warum ich nicht über das Essen meckere

Ich esse fast alles. Es gibt – natürlich – Ausnahmen: Innereien zum Beispiel, Nudelsalat mit Kochschinken, eine fleischlastige Diät und auch Meeresfrüchte gehören nicht zu meinen Favoriten. Abgesehen davon habe ich ein weites Herz oder auch einen anspruchslosen Gaumen, wenn es ums Essen geht. Verkochte Nudeln, im Winter hauptsächlich Kohlgerichte, zwei, drei Tage in Folge dasselbe Essen – überhaupt kein Problem. Ich beobachte allerdings eine relativ ausgeprägte Kultur des Meckerns über das Essen. Elternabende sind ein gutes Beispiel; aber auch wenn Leute sich über die Verpflegung in Jugendherbergen oder anderen Gemeinschaftsunterkünften austauschen, bin ich nicht selten verwundert.

Ich glaube, meine in meinen Augen genügsame Einstellung hat verschiedene Gründe, die allesamt in meiner Vergangenheit liegen. Aufgewachsen bin ich mit zentral angelieferter Schulspeisung und in einem Land, in dem saisonales Gemüse oft das einzige war, das es gab. Weiter ging´s vier Jahre lang in einer WG mit acht Leuten in der bayrischen Pampa – alle waren jung, alle hatten Hunger, alle haben rumprobiert. In meinem ersten Job auf einem Bauernhof wurde erwartet, dass ich einmal pro Woche alle beköstige, denn: jeder war mal dran. Dann kam meine eigene, in vieler Hinsicht noch immer wachsende Familie. Immer waren Mahlzeiten etwas Gemeinsames.

Seit vielen Jahren koche ich täglich selbst. Essen macht Arbeit, Essen macht satt, Essen stiftet Gemeinschaft. Meist schmeckt es. Essen darf auch besonders lecker sein, gar keine Frage. Aber: Das ist mir nicht am wichtigsten, das Zusammensein bedeutet mir mehr. Deshalb meckere ich nicht über das Essen, sondern höchstens über die muffeligen Mit-Esser …