Ich kann das noch – allein

Vergangenes Jahr habe ich allein Urlaub gemacht. Drei Tage, eine Radtour. Ich habe selbst überlegt, was ich machen will, wohin die Reise gehen soll, wen ich besuchen werde. Dann bin ich losgezogen, allein. Kalt war´s Anfang April, regnerisch, nicht einladend fürs Radeln. Aber die Wege waren schön, das Land flach. Zwei Tage frierend auf super ausgeschilderten Radwegen, dann weiter – bei tollem Wetter – zum Teil quer durch die Walachei. Keiner an meiner Seite, der mir beim Wegsuchen geholfen hätte – und keiner an meiner Seite, der ein anderes Tempo schön gefunden hätte. Keiner zum Reden – und keiner, der meine Gedanken mit seinen durchkreuzt hätte. Keiner, der mich ermutigt hat, als es fast zu weit wurde – und keiner, der andere Pausenplätze hätte aufsuchen wollen. Allein und frei!

Zwei Leute habe ich besucht und auch das war – so ganz allein – besonders. Ich habe alle Wege gefunden, bin angekommen, hab mich verfahren und wieder korrigiert, den Mut nicht verloren und es gut mit mir allein ausgehalten. Ich kann das noch, ich kann noch allein unterwegs sein, alles hier zu Hause hinter mir lassen und einfach losziehen.

Fließender Übergang

„Sie hat einen starken Willen“, hörte ich letztens, als es um ein kleines Kind ging. Böse Zungen könnten eine solche Eigenschaft auch „stur“ nennen. Die Grenze ist fließend. Eine meiner Töchter weiß ganz genau, was sie will, was sie gut findet, was nicht. Ganz genau. Solange wir mit ihr d´accord gehen – alles paletti. Wenn sie abends nicht mehr draußen Waveboard fahren darf, weil die Kaninchen nicht versorgt sind oder wir sie einfach mal gern um uns hätten oder ihr Zimmer nach mehrmaliger Aufforderung noch immer aussieht wie nach einem Erdbeben – dann ist mit ihr nicht gut Kirschenessen. Obwohl sie einem leckeren Obstteller nicht wirklich widerstehen kann.

Regelmäßig amüsieren wir uns darüber, wie wenig sie einlenkt, wenn sie nicht überzeugt ist. Wir können sie nicht zum Lachen bringen, und das bringt uns zum Schmunzeln – was sie wiederum gar nicht lustig findet.

Ist es gut, dass sie weiß, was sie will? Ja!

Ist es auch schwierig, dass sie so genau weiß, was sie will? Ja!

Eine Gabe birgt immer Segen und Fluch, eine Stärke kann immer auch eine Schwäche sein. Das Leben ist ein kompliziertes Ding.

Auf Augenhöhe oder in Schieflage

Wenn ich in der Grundschule Brötchenhälften belege und in der Pause verkaufe, gehe ich beim Verkaufen in die Hocke. Dann lächeln die Kinder meist. Sie brauchen trotzdem lange, um ihr Geld rauszusuchen und noch länger, um die Preise auszurechnen oder das Wechselgeld zu verstauen. Und sie fühlten sich wohl ebenso ernst genommen, wenn ich aufrecht stehen bliebe. Dennoch: Ich nehme mir das nicht vor, ich mache es einfach. Ich gehe auf Augenhöhe. Bei den Kindern fällt es mir leicht.

In Gesprächen mit Erwachsenen ist die physische Augenhöhe meist von allein gegeben, aber empfinden wir uns auch innerlich, seelisch, geistig auf Augenhöhe? Ich fühle mich schnell mal überlegen, wenn Menschen mir von Problemen berichten, die ich schon längst hinter mir gelassen habe: „Du weißt nicht, ob du im Kindergarten zu dem Elternabend gehen kannst? Andere Sorgen hast du nicht?“ Ebenso schnell fühle ich mich unterlegen, wenn Leute deutlich schlauer wirken oder sind als ich. (Obwohl diejenigen, die es tatsächlich sind, ganz häufig nicht so wirken und es mich in der Regel nicht spüren lassen.)

Am besten sind die Begegnungen, in denen es um Ebenbürtigkeit nicht geht, weil sie von vornherein da ist. Da werden die Unterschiede nicht totgeschwiegen oder ignoriert, sondern überlagert – von Wertschätzung, Annahme, unangestrengter Freundlichkeit und ehrlicher Freude über den anderen. Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass unsere verschiedenartig gelagerten Kompetenzen uns ja immer auf Augenhöhe begegnen lassen könnten: Was ich schon weiß und kann, spielt sich nur in anderen Bereichen statt als bei anderen. Jegliches Bewerten – ob bewusst oder unbewusst – ist subjektiv und die Wurzel der empfundenen Schieflage.

Was die Stimme offenbaren kann

Ich höre, wenn jemand lächelt, während er redet. Sogar am Telefon. Andere können das auch, es ist keine Kunst. Ich finde es spannend, dass die Stimme so wenig verbergen kann, dass man lächelt. Zwar könnte ich nicht sagen, woran ich es höre, was sich anders anhört, aber ich höre es. Faszinierend. Höre ich genauso auch Wut? Ich glaube, ja. Oder Traurigkeit, die auch. Unsere Stimme ist ein offenes Tor hinein in unsere Gefühle – ob wir es wollen oder nicht. Vielleicht können Schauspieler die Stimme dahingehend modulieren, dass sie Gefühle vortäuschen oder unterdrücken können; Normalsterbliche können das nicht ohne weiteres, sondern nur, wenn sie sich bemühen. Oder?

Im normalen Tagesgeschäft begegnen mir andauernd Menschen (nicht digital!), denen ich nicht abspüre, in welcher Stimmung sie sich gerade befinden. Woran liegt das? Leben wir in einem Miteinander, in dem Gefühle keinen Platz haben? Ist unsere Gemeinschaft darauf ausgerichtet, nur Sachinformationen auszutauschen? Ich schätze, manches wollen wir gar nicht wissen, manche Gefühlsuntiefe ist auch nicht für jedermann; und die meisten Begegnungen sind kurz und bleiben oberflächlich.

Außerdem ist sich nicht jeder seiner eigenen Befindlichkeit bewusst. Ich kann mir vorstellen, dass das auch mit unserer Geschäftigkeit zu tun hat. Wir laufen im Erledigungsmodus durch unseren Alltag und funktionieren. Mal gut, mal weniger gut. Das ist nicht per sé schlecht: Manches muss einfach gemacht werden. Aber wir brauchen die Pausen, ganz sicher. Nicht um Nabelschau zu betreiben, sondern um Mensch zu sein. Dann sind Begegnungen möglich, in denen man die Stimmung hört – und im besten Fall reagieren und Anteil nehmen kann. Das ist wohl das, was wir menschliche Gemeinschaft nennen.

Ich freue mich jedenfalls immer, wenn ich jemanden lächeln höre…